Braucht Kreativität Liebe oder braucht Liebe Kreativität?
Kreativität und zwischenmenschliche Liebe sind positive, schillernde Konzepte, die erstrebenswerte Zustände repräsentieren und vor allem eines versprechen: Glück. Die Suche nach Rezepten für dieses versprochene Glück ist tief in unserer kulturellen DNA verwurzelt. Aus einer solchen „Rezeptsicht“ heraus ergänzen sich Liebe und Kreativität gegenseitig, stehen im Rezept des jeweils anderen. Liebe sollte in kreativem Schaffen vorkommen, genauso wie Kreativität in der Liebe. Kreative pflegen eine Liebesbeziehung zu ihren Werken und ihrem Werkzeug. Sie lieben, was sie tun. Liebende empfinden etwas Schöpferisches in ihren gemeinsamen Erlebnissen – Liebe als ein gemeinsam geschaffenes Kunstwerk.
Wenn wir Liebe und Kreativität jedoch weniger aus einer „Rezeptsicht“ betrachten, sondern als lebendige Prozesse – ähnlich einer ungewissen Reise – offenbart sich ein anderes Bild. Als Prozesse sind Liebe und Kreativität voll mit Momenten der Ambiguität und Widersprüchlichkeit. Sowohl eine Reise zwischenmenschlicher Beziehungen als auch ein kreativer Prozess oszillieren zwischen Gegensätzen wie Struktur und Freiheit, Bindung und Autonomie und werden von vermeintlich lieblosen und unkreativen Reisebegleitern begleitet, die stören, antreiben, bremsen und zu Abzweigungen ermuntern.
In meinem Vortrag möchte ich drei dieser Begleiter kreativer Prozesse aus meiner Forschung zur Kreativität (in der Musik) vorstellen: die Unfertigkeit, die Zwischenzeitlichkeit und den Defokus. Darauf aufbauend stelle ich drei Thesen zur Übertragbarkeit dieser Begleiter auf Prozesse der Liebe zur Diskussion: (1) Kreative und Liebende streben nicht danach, Dinge „zu Ende zu bringen“, sondern leben mit und in Versionen; (2) Kreativität und Liebe entfalten sich oft in Situationen, in denen wir mit „etwas anderem“ beschäftigt sind; (3) Kreativität und Liebe manifestieren sich häufig an Orten, „wo wir nicht direkt hinschauen“, also jenseits unseres Fokus, jedoch weiterhin in unserem Blickfeld.
Kreativität und Liebe sind demnach keine glücksverheißenden Zutaten im Rezept des jeweils anderen, sondern eher unsichere, mitunter unbequeme, jedoch möglicherweise sehr ähnliche lebendige Reisen.