Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,

sechs Uhr morgens. Die Sonne taucht meinen Schreibtisch in gleißendes Licht. Sie bringt die Buchstaben auf den Buchrücken zum Leuchten. Ein wenig Staub flirrt in der Luft. Durch das große Fenster hindurch fühle ich die Wärme der Sonnenstrahlen auf meiner Haut und weiß: Jetzt ist er da, der Sommer. Hat sich etwas Zeit gelassen. Aber jetzt scheint er unverblümt eingetreten, ganz ohne Übergang. 

Dies ist voraussichtlich mein letzter Brief. Mit etwas Glück , denn das Semester endet bald. Dieses eigenartige Semester, das uns nicht ein einziges Mal vor die Tür trieb, und das unseren Erfahrungshorizont auf Bildschirmgröße eindampfte. Aber jetzt scheint das alles bald vorüber. Das Glück ist die Aussicht auf ein Wiedersehen. Ganz analog. Persönlich. Aug in Aug. Im Kulturhaus in Dornbirn. Am 6. und 7. Juni feiert die Auferstehung Generalprobe, und am 4. Oktober dann, endgültig… 

Jetzt ist es sechs Uhr morgens. Der Brief hat noch etwas Zeit. Ich strecke mich, gähne herzhaft, wirf mir eine Jacke über und geh spazieren. 

Beständig und zügig fließt die Bregenzerach in Richtung See. Sie bringt Schmelzwasser. An der Biegung hat sie eine kleine Insel aus Geröll aufgetragen. Der Weg dorthin führt über ein Flussufer voller „Achbolla“. Fröhlich schwankender Gang. Schritt für Schritt in all der Unebenheit immer wieder festen Stand gewinnen. Suchend tasten, ausbalancieren, auftreten. Wie eine Mischung aus Tänzer und Betrunkener. Es ist gar nicht so leicht in all den Schieflagen einen Standpunkt zu gewinnen. Aber nicht, um stehen zu bleiben. Erst der feste Ausgangspunkt erlaubt den nächsten Schritt, ohne ins Taumeln zu geraten. Suchen, finden, aufbrechen. Haben wir uns so die letzten anderthalb Jahre entlang getastet?

Ich hab einmal ein Kind so gehen sehen. Diesen köstlichen Augenblick miterleben dürfen, da es sich seiner Schritte bewusst wurde. Es ging dann für ein paar Augenblicke ganz bedacht, traumverloren, in sich gekehrt, konzentriert. Wie ein Mensch, der bewusst atmet. Ein, aus, ein, aus. Das hält man nicht lange durch. Dann tauchen Atem und Gehen wieder in die lebensbejahende Selbstverständlichkeit. 

Heute fahr ich nach Deutschland. Steige auf mein Motorrad und tuckere über Weiler ins Allgäu. Einfach mal wieder jenseits der Grenze dahin rollen. An den schmucken Höfen vorbei und unter den Maibäumen hindurch. Vielleicht den Gottesdienst besuchen im Wolfegger Barockjuwel? „Nur mit Anmeldung“, schreiben sie im Internet. Auch Einkehren im Ochsen in Kißlegg ist nicht, weil „das Testregime“ es noch nicht zulässt. Die Deutschen nennen es tatsächlich „Testregime“. Aber es reicht schon nicht mehr bis zum See. In Lindau schreitet das Erwachen zügig voran. Hat die Gastgärten erreicht und scharrt jetzt an den Fenstern der eingemotteten Braustuben. 

Heute Morgen Dostojewski aufgeschlagen. „Schuld und Sühne“. Es stand schon ganz vergessen bei den Russen im Regal, in der zweiten Reihe. Zu Beginn seines Romans lässt Dostojewski den Jus-Studenten Raskolnikow „an einem der ersten Tage im Juli“ auf die Straße treten. „Seine Kammer lag unmittelbar unter dem Dach des hohen, fünfstöckigen Hauses und hatte in der Größe mehr Ähnlichkeit mit einem Schrank als mit einer Wohnung.“ Raskolnikow ist mittellos. Auf dem Weg zur Pfandleiherin. Ein Unglücklicher. 

Nun, hier ist nicht St. Petersburg, und dies ist zweifelsfrei kein Schrank. Ich spaziere durch den Garten zur Garage und werde noch beim Bankomaten vorbeifahren, ehe es nach Norden geht. Später am Abend werd’ ich mir dann denken: Es war ja alles noch da! Die putzigen Häuser und Landschaften, die immer ein wenig an eine Spielzeugeisenbahn erinnern. (Man möchte immerzu die Kühe mit der Hand aufnehmen und ein Stück weiter drüben wieder hinsetzen.) Der Garten in Pfärrich steht in voller Blüte. Aus den geöffneten Fenstern der benachbarten Gaststube wallt Bratendurft. Alles noch da, wie früher. 

Und die zweirädrigen Glücksritter, die mit staunenden Kinderaugen in diesem schwäbischen Garten Eden ihre Kurven ziehen, beglückwünschen einander auf ihre Weise: Sie grüßen sich. Knapp und lässig. Motorradfahrer tun das manchmal. Aber heute tun es alle, ausnahmslos. Heben kurz die Hand vom Lenker, so wie Bregenzerwäldar Autofahrer den Zeigefinger der rechten Hand vom Lenkrad heben, wenn sie ihresgleichen begegnen. 

Es heißt so viel wie „Tservas!“ 

Also dann: Bleiben Sie neugierig und gesund. Und genießen Sie den Sommer! Und verzeihen Sie mir diese kleine Vertrautheit: Ich hebe den Zeigefinger der rechten Hand von der Tastatur und murmele: Tservas! Man sieht sich. Spätestens im Oktober, im Dornbirner Kulturhaus.

Herzlichst,

Ihr Thomas Matt