Der Begriff der Philosophie ist, da sein Wesen einerseits den Nichtphilosophen verschlossen bleiben muss, und er doch – wie man es ausdrücken könnte – inflationär gebraucht wird, in seinem breiten Verständnis von wesentlichen Missverständnissen beherrscht. Es ist ein Wesentliches etwa, das die Öffentlichkeit dazu tendieren lässt, sowohl die Philosophie als auch die Wissenschaften gänzlich falsch einzuschätzen, nämlich der Irrtum, letztere, allen voran die Naturwissenschaften, seien entgegen der anscheinend allein spekulativen Philosophie der Wirklichkeit näher als diese, sie könnten gar gesicherte Wahrheiten liefern. Blickt man klarer, muss verständlich werden, dass eben das genaue Gegenstück (in logischem Sinne) zu dieser Ansicht wahr ist. Es soll im Folgenden versucht werden, einige wenige Punkte klar zu machen, zu versuchen, den Kern der Philosophie zu skizzieren.
Zuerst wollen wir unseren Blick auf den Geist richten, der die Naturwissenschaften in der Neuzeit zu der Stellung erhoben hat, die diese in der Moderne eingenommen haben, und den philosophischen in seinem Kontrast zu diesem zu charakterisieren versuchen. Es ist der Geist des Fortschritts – so wie Wittgenstein den Begriff versteht. Dieser Geist ist ein zweckvoller, was heißt, dass in ihm alles nur Zweck um des anderen Willen ist, dass jeder derzeitige Zustand seine Berechtigung im ihm folgenden findet. Und so ist auch das Wissen nur Zweck zum Mehrwissen und muss daher oberflächlich bleiben. Oberflächlich ist hier nämlich nicht in dem alltäglichen Sinne gemeint, dass der menschliche Geist sich nicht weit erstreckt, dass er manches vergisst, sondern eben, dass er nicht tief geht. Dem fortschrittlichen Denken ist Wissen eben auf seine Vermehrung gerichtet, nicht um des Verständnisses wegen, wie es in der Philosophie der Fall ist. Es geht demnach nicht um Begreifen dessen, was vor einem liegt, denn um die Ausweitung des Blickes allein.
Dieses Fortschrittsdenken aber führt nun dazu, dass der Mensch sich völlig der Wirklichkeit – hier sowohl im gebräuchlichen wie im zeitlogischen Sinn gemeint – entfremdet hat, da es seinen Blick ganz auf das Zukünftige hin orientiert, wodurch er zu einem gehetzten geworden ist. Das gute Leben aber ist wirklich, daher: gegenwärtig, denn wenn das Leben Sinn hat, so ist jede sinngemäße und daher gute Tätigkeit sich Selbstzweck, also nicht auf ein Zukünftiges oder Vergangenes gerichtet, sondern allein auf sich selbst: Es ist also gegenwärtig. Folglich muss das alleinige Fortschrittsdenken ein falsches sein.
Ganz diesem widerstrebend ist der Geist der Philosophie, der, wie Wittgenstein betont, nach Verständnis strebt. Was heißt dies? Er strebt nach einer Tiefe des Wissens, die nicht mehr Wissen allein ist, nach einem tiefen Verstehen der Tatsachen, und es ist ein wesentlicher Unterschied, ob man sich mit dem Wissen um einen Sachverhalt begnügt, oder ob man sich nach einem Verständnis seiner Bedeutung für das Dasein bemüht. Weiters strebt die Philosophie folglich ebenso nach Weisheit, da diese doch nichts anderes ist als ein tiefes Verständnis des Daseins und des Bestimmenden in Einheit mit der Lebenspraxis.
Was lässt sich aus dieser Feststellung noch sagen? Etwa, dass Philosophie auf das Dasein blickt wie auf das Bestimmende und dies in einer Art hermeneutischem Zirkel: Sie blickt auf das Dasein des Einzelnen, auf das Dasein an sich in Hinblick auf die Welt und auf diese, in Hinblick auf das Dasein des Einzelnen etc., was heißt: Sie betrachtet das Einzelne unter Hinsicht auf das Ganze und das Ganze in Hinsicht auf das Einzelne. Philosophie ist also lebensnah, denn sie setzt sich eben damit auseinander. Aber in dieser Weise tätig, so wird
man einwenden, sind doch auch zumindest manche der Wissenschaften, etwa Psychologie, Humanmedizin, Teile der Biologie und so fort. Es fehlt ihnen aber nun zum einen diese hermeneutische Sichtweise, d. h. ihnen geht entweder der Einzelne oder das Ganze verloren, zum anderen müssen die Wissenschaften durch ihren Positivismus das eigentlich Wesentliche verfehlen. Denn nur die Philosophie schafft es – anders als sie – über das hinauszugehen, was man sieht, indem sie aufzeigt, was sich eben nicht sehen lässt, indem sie aufzeigt, was sich eben nicht sagen lässt. Gerade aber im Verhältnis zu diesem Unverstehbaren, man will es das Nichts nennen oder das Unsagbare, besteht doch die wesentliche Problematik unseres Daseins, die sich nicht auflösen lässt, da man nicht verstehen kann, was sich nicht denken lässt.
Wie kommt nun aber die Philosophie zu diesem Grenzabstecken? Zum einen, indem sie das Denken gleichsam von innen her abzugrenzen versucht und im Grunde sind alle metaphysischen Systeme nichts anderes, als ein Versuch, die Grenze, die nie völlig klar gezogen werden kann, auszuloten. Das gelingt aber nur, wenn die Philosophie frei von Spekulation ist, sich ganz auf die Tautologien selbst begrenzt, damit auch auf die notwendigen Aussagen. Sie allein kann gesicherte Sätze liefern, während die Sätze der Naturwissenschaften immer hypothetisch bleiben müssen, sich nie verifizieren, sondern nur falsifizieren lassen. Diese unterscheiden sich somit von der Mythologie nur durch ihren Positivismus und die Festlegung der Methoden, nicht aber ihrem logischen Wesen nach. Das heißt nichts anderes, als dass sowohl das mythologische Denken als auch das naturwissenschaftliche hypothetisch sind – auf den Wegen der Induktion wie Abduktion. Mythologie ist sozusagen religiöse Naturwissenschaft oder naturwissenschaftliche Religion. So sind die Götter durch ihren immanenten Charakter auch am besten als Kräfte oder ähnliches zu sehen, sie stehen jedenfalls zur Welt und zu sich gegenseitig in kausalen Beziehungen, deren Zweck auch eine Welterklärung in naturwissenschaftlicher Art und Weise ist. Diese Verwandtschaft hält uns die Unfähigkeit der Wissenschaften zu gesicherten Sätzen deutlich vor Augen, die sie unter anderem von dem philosophischen Denken unterscheidet.
Zum anderen ist die Blickweise der Philosophie – und eben das ist sie ja doch: eine Herangehensweise an das Dasein, ein Blickwinkel, von dem aus die Welt gesehen wird – eine dumme, will heißen: unwissende, was ermöglicht, die Dinge immer wieder neu und unvoreingenommen zu sehen. Sie ist auch eine mystische. Dazu folgendes: Wie Heidegger betont, findet die Philosophie ihren Ursprung in einer Stimmung, die eine staunende ist. Sie rührt vom Blickwinkel auf die Welt her, der ein mystischer ist. Und „(n)icht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist“. (Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung, 6.44) Es ist die mystische Betrachtungsweise, die das Unaussprechliche sich zeigen lässt. Kurz: Die Gestimmtheit der Philosophie ist ein Staunen über die Existenz, welches uns die Unfassbarkeit des Grundes vor Augen führt. (Und hierin unterscheidet sich die philosophische Sichtweise in keiner Weise von der künstlerischen.) Dieses Nichts gebiert natürlich Angst, der wir nur durch den rettenden Sprung in den Glauben entgehen, wie Kierkegaard gesagt hat. Nun ist aber die Beziehung der Philosophie zum Zweifel klar, so dass verständlich sein muss, dass diese Angst nie ganz überwunden werden kann, sondern nur kultiviert, gezähmt könnte man sagen.
Das philosophische Tätigsein ist nun aber in gewisser Weise auch das, welches dem Glauben, der ja über die Vernunft hinausgeht, ihr aber nicht widersprechen darf, seinen Raum gibt und diesen begrenzt, besser: ihm Raum gibt, indem er diesen begrenzt. Dieses Beschränken ist quasi eine Art Destillation vom Aberglauben. Philosophie ist somit Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes, wie Wittgenstein es ausdrückt.
Fassen wir kurz zusammen: Philosophie ist also ein Bemühen um Verständnis und Klarheit des Denkens, was dasselbe bedeutet, sie ist ein Bemühen um Wirklichkeit, um Begreifen der Probleme des Daseins und so weiter. In diesem Bemühungscharakter zeigt sich, dass Philosophie ebenso Arbeit an sich selbst ist, wie Wittgenstein sagt, an unserer „eigenen Auffassung, daran wie man die Dinge sieht“, dass sie ein Ethisches ist und damit als Ziel eine gute Lebensführung hat. Aber in all diesem Bemühen um das Gute offenbart sich nun neben der mystischen und der logischen eine ethische Sichtweise auf Welt und Dasein. Man kann ihr Verknüpftsein durch die Philosophie am besten mit dem Vorwort Hölderlins zum Hyperion erfassen, in dem er schreibt, weder, wer eine Blume nur denke, noch, wer sie nur sehe und sich an ihr erfreue, hätte sie wirklich begriffen.
Der Versuch, die Philosophie hier vollständig darzustellen, muss unvollständig bleiben, da es alleiniges Ziel dieses Essays gewesen ist, eine nur skizzenhafte Umreißung vorzunehmen. Es ist versucht worden, das Wesen des philosophischen Tätigseins von mehreren Aspekten her zu beleuchten und darzustellen, dass diese verwoben sind, dass sie sich gegenseitig wie das Ganze bereits im Keim enthalten und dass die Philosophie nur als Gesamtheit dieses Gewebes begriffen werden kann. Dieses Ganze umfasst auch eine Nähe zum menschlichen Dasein und seinen Problemen, zur Welt, zum Denken und so weiter, das allein ihm zukommt und das vielleicht den Kern aller Philosophie ausmacht. Sie ist, um es mit Heraklit zu sagen, Streben nach Wachheit und damit in gewisser Weise nach sich, nach der Philosophie selbst: als Selbstzweck.
Paul Gruber
Bundesgymnasium Feldkirch Rebberggasse
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