Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.
Dieses stringente Zitat, das von keinem Geringeren als Johann Wolfgang von Goethe selbst verfasst wurde, ist auch heute, obwohl es vor nahezu 200 Jahren, in denen sich Gesellschaft und Denken signifikant verändert haben, publiziert wurde, relevanter denn je zuvor.
Wir denken, dass wir, zumindest in unserem Europa, so wie wir es heute kennen, „frei“ sind. Denn wir können uns doch dem System gegenüber kritisch äußern, den Beruf ausüben, den wir möchten, uns kleiden, so wie wir es für angemessen halten und morgen unser gesamtes Leben „über den Haufen werfen“ und irgendwo im tiefsten Dschungel Südamerikas eine neue Existenz als Bananenbauer beginnen. Das alles können wir. Doch was sollten wir tun? Sind wir wirklich so frei, wie wir glauben, es zu sein?
„Können“ und „sollen“ sind zwei so grundlegend verschiedene Dinge wie Äpfel und Kartoffeln. Was wir können, definiert noch lange nicht das, was wir (tun) sollen. Ich möchte an dieser Stelle meine These auf ein Beispiel stützen, um den geschilderten Sachverhalt etwas anschaulicher zu gestalten: Ich kann zwar einen Menschen umbringen, doch dass ich es auch tun sollte, ist infrage zu stellen. Können setzt eine Fähigkeit fest, die mich dazu in der Lage sieht, etwas zu tun; wobei sollen hingegen nicht nur stark von meiner, sondern auch, und dies übrigens schon seit der Mensch diesen Planeten bewandert, von der ethisch-moralischen Ideologie der gesamten Gesellschaft abhängt, in der ich meine Existenz führe.
Wenn ich also sagen würde, dass der Mensch nicht als Individuum frei ist, sondern die Gesellschaft als eines, dann wäre diese Theorie genau so falsch, wie jene, dass das eine Individuum frei ist, aber die Gesellschaft diesem einen Individuum komplett untersteht.
Doch das Paradoxe hier ist, dass Freiheit weder von einer gewissen sozialen Konstruktion, noch von einer einzelnen übermächtigen Person abhängig sein sollte, sondern ausschließlich von einem selbst.
Dass diese Annahme aber eine Utopie ist, stellt sich schon allein darin heraus, dass wir im Prinzip keinen Einfluss auf das Maß unserer eigenen Freiheit haben, obwohl wir das manchmal gerne glauben würden. Denn wir haben eine Regierung, die uns klar und deutlich vorschreibt, was wir zu tun und was wir zu lassen haben. Unsere Regierung „regelt“ zwar alles für uns, aber im Gegenzug reguliert sie auch alles.
Ganz davon abgesehen, reguliert sich die Gesellschaft durchaus selbst. Auf diese kühne Annahme möchte ich nun eingehen.
Freiheit in Europa bedeutet, abgesehen von den anfangs genannten Punkten, auch Meinungsfreiheit. Die Meinungsfreiheit ist ein Privileg, das Millionen Menschen auf dieser Welt nicht besitzen, aber auch in einem scheinbar freien Europa ist die Meinungsfreiheit noch lange keine wirkliche Freiheit. In Ländern wie Nordkorea oder dem Iran wird Meinungsfreiheit von der Regierung dadurch unterdrückt, dass Bürger, die ihre Auffassung zu einem, zumindest von uns privilegierten „Westerners“ aus betrachtet, nicht unbedingt kontroversen, Thema äußern, auf öffentlichen Plätzen, oder während einer Liveübertragung im Staatsfernsehen brutal gefoltert, in zahlreichen Fällen sogar öffentlich hingerichtet werden. Der durchschnittliche Bürger, der ohnehin schon keine Intentionen hat, einen regierungsstürzenden Putsch zu organisieren, wird durch diese extremen Formen von
Staatspropaganda nur noch mehr eingeschüchtert und beugt sich einem System, das ihn zum geistigen Sklaven macht; er unterstellt sich gezwungenermaßen einem System, das ihm die Wahl zwischen Freiheit und Tod lässt.
Überträgt man dieses Beispiel auf Europa, wird man zwar nicht auf solch erschreckende Erkenntnisse stoßen, aber zu einer ernüchternden Feststellung gelangen.
In Europa werden laut europäischem Recht nur Internetseiten zensiert, auf der Kinderpornographie und Kindesmissbrauch zu sehen sind; und auch das Veröffentlichen von stark regierungskritischen Werken wird, da Meinungsfreiheit auf dem Papier durchaus existiert, nicht strafrechtlich verfolgt. Doch dass Zensur in unserer Gesellschaft nicht vorhanden ist, ist ein gefährlicher und weitverbreiteter Irrglaube. Zensur gibt es in dieser Gesellschaft durchaus, denn diejenigen die zensieren, sind nicht die Regierung und deren überall agierende Spione, sondern, ironischerweise die Gesellschaft selbst.
Ja, genau. Jene Gesellschaft, die glaubt, in einem (beinahe, mit Ausnahme der obigen Adressen) unzensierten Staat zu leben, schafft eigenständig diese Zensur, deren Absenz eines der etlichen Indizien der Freiheit sein sollte. Von dieser Idee kann man auch einen Bogen zu Alexis de Tocquevilles Theorie zur “Tyrannei der Mehrheit” spannen.
Tocqueville beschreibt in seinem Werk „Die Demokratie in Amerika“ jene Auffassung, dass vor allem die Gesetzgebung der Mehrheit unterworfen sei und, dass die Interessen der Mehrheit wichtiger seien als jene der Minderheit. Dies untermalt er mit folgendem prägnantem Zitat: „Die unumschränkte Herrschaft der Mehrheit liegt im Wesen der Demokratie; denn in der Demokratie kann sich außerhalb der Mehrheit nichts behaupten.“
Wie sich die Gesellschaft selber zensiert, ist mit einem sehr einfachen Beispiel zu erörtern: Wenn ein Mensch mokante und erniedrigende Äußerungen gegen bestimmte Volksgruppen oder Einzelpersonen, um ein aktuelles Beispiel einzuwerfen, gegen Kopftuchträgerinnen und/oder Menschen, die aufgrund von Krieg und Verfolgung aus ihrem Heimatland fliehen mussten, vornimmt wäre dies nicht strafbar und würde ebenfalls unter die offizielle Definition der „Meinungsfreiheit“ fallen. Was hier aber stark anzuzweifeln ist, dass solch eine Aussage im Umfeld, in welchem sie getätigt wurde, nicht auf irgendeine Art von Resonanz, sei es negative von rational Denkenden, oder positive von Gleichgesinnten, stieße.
Jene negative Resonanz würde, wenn wir von einer „idealen“, eher linksgesinnten, rationalen Gesellschaft ausgehen, die im Interesse eines gerechten und sozialen Europas agiert, viele Anhänger finden, die, wenn wir vom harmlosesten Szenario ausgehen, den Sprecher dieser Aussage über den Schweregrad jener aufklären und, vom extremsten Szenario ausgegangen, das natürlich auch über viele Zwischenstufen führt, diesen Menschen komplett von der „übrigen“ Gesellschaft ausschließen.
Wenn wir diesen Gedanken nun weiterführen und auf andere, auch weniger extreme Exempel und Kreise (eine Schulklasse, Familie, ein komplett anderes Land) ausweiten, wird uns klar, dass jedes Individuum unserer Gesellschaft, sei es aufgrund von dessen individuellen Ansichten, oder sei es auf Grund von jeglichen anderen Faktoren, einen Beitrag dazu leistet, gesellschaftliche Zensur zu generieren.
Dies kann in solch einem komplexen sozialen Gefüge auch kaum vermieden werden, da jeder Mensch eigene Ideale verfolgt, die auch nicht zwingend er selbst sich angeeignet hat, da jene nicht selten von Generation zu Generation weitergereicht werden. Ginge man aber streng philosophisch an diese Aussage heran, müsste man wohl sagen, dass es jedem Mensch frei überlassen sein muss, die persönlichen Anschauungen beliebig zu optimieren.
Ich möchte zum Schluss noch einmal auf das Zitat aufmerksam machen, das ich ganz an den Anfang dieses Essays gestellt habe. Wie ich auf diesen Seiten versucht habe darzulegen, sind wir die Sklaven unserer eigenen Gesellschaft; doch die Gesellschaft sind wiederum wir. Wenn sich die Menschheit schon selbst versklavt, gebührt uns dann überhaupt (noch) ein Recht auf Freiheit? Kann die ultimative Freiheit überhaupt existieren? Und wenn ja, ist dies etwas Erstrebenswertes? Brauchen wir Menschen Barrieren, um die Dimension unserer Freiheit überhaupt erst erfassen zu können?
Cosima Rudigier
Bundesgymnasium Bludenz
7. Klasse Kultur und Sprache