Es steht jedem das Recht zu, nein, es schreibt jedem das Recht vor, ab dem 7. Lebensjahr eine Schule zu besuchen und die Chance auf Bildung in Anspruch zu nehmen. Bedeutet das aber, dass eine allgemeine Chancengleichheit herrscht?

Mit dem Einführen der Schulpflicht ist zwar ein Startpunkt für Schüler aus verschiedensten Verhältnissen festgelegt worden, die Umstände, Vorgeschichten und Hindernisse der Individuen unterscheiden sich jedoch stark. Schon bei der Geburt stehen der sozioökonomische Status und damit auch die Chancen auf eine höhere Schulbildung und die Möglichkeiten auf einen Aufstieg in die privilegierte Klasse fest.

Die Elite bleibt unter sich. Dies zeigt auch unser momentanes Schulsystem. Schon nach der 4. Klasse Volkschule steht die große Entscheidung an und die Wege trennen sich. Die gerade erst Neunjährigen müssen eine Wahl treffen, die großen Einfluss auf ihre weitere Schul- und Berufslaufbahn hat. Laut Zahlen der Statistik Austria „entscheiden“ sich Dreiviertel der Kinder aus Akademikerfamilien dafür, eine Schule mit AHS Niveau zu besuchen, während 80 % der Kinder mit Eltern, die eine Lehre oder den Pflichtschulabschluss haben, meist den Weg über die Mittelschule wählen. Dabei entscheiden das meist nicht die Kinder sondern ihre Eltern. Für einen Großteil der Akademikereltern wäre es unvorstellbar, die eigenen Kinder auf eine Hauptschule zu schicken, während Schüler mit Familien aus sozial benachteiligten Schichten gar nicht erst darüber nachdenken ein Gymnasium zu besuchen. Oft liegt das an fehlendem Selbstvertrauen und zu wenig Unterstützung. In manchen Situationen reicht auch einfach der Notendurchschnitt nicht für den Sprung aufs Gymnasium. Die nicht nur in Österreich vorhandene Kluft zwischen Akademiker-Kindern und Nicht-Akademiker-Kindern wird besonders in dem in „Die Zeit“ erschienenen Artikel „Mehr Luft für den Aufstieg“ deutlich. Die dort angeführten Statistiken zum deutschen Bildungssystem zeigen, dass von hundert Kindern, mit mindestens einem studierten Elternteil, drei Viertel ein Studium beginnen, sechzig Prozent den Bachelor und fast die Hälfte den Master absolvieren und zehn Prozent eine Promotion erreichen. Bei Kindern aus Nicht-Akademiker-Familien beginnen nur ungefähr 20 Prozent ein Studium von denen dann nur 15 Prozent Bachelorabsolventen und 8 Prozent Masterabsolventen werden. Nur ein Einziger von Hundert erhält den Doktorgrad.

Liegt das dann einfach am Potential und an den Fähigkeiten der Schüler oder steckt dahinter ein komplexes Zusammenspiel, aus zu wenig familiärer Unterstützung, der Behandlung durch Lehrer und Mitschüler und nicht vorhandener schulischer Förderung?

Man nehme die Metapher eines Hundertmeterlaufes her. Die zwei Teilnehmer starten in derselben Startposition, zur selben Zeit, am selben Ort. Hört sich nach einem gerechten Wettkampf an. Was dabei außeracht gelassen wird, ist die Tatsache, dass die Startnummer 1 die neusten Sportschuhe besitzt, während Teilnehmer 2 in einem Paar abgenutzter Turnschuhe starten muss. Startnummer 1 gewinnt mit einer Viertelsekunde Vorsprung. Nun lässt sich behaupten, dass diese Voraussetzungen keinerlei Einfluss auf die Leistung und die Ergebnisse der Teilnehmer haben und Nummer 1 schlichtweg besser und schneller war. Dabei werden äußere Umstände völlig außeracht gelassen. Der Fokus liegt auf den Regeln des Wettkampfs und laut denen, hatten beide den gleichen Startpunkt und die gleiche Laufbahn.

Es lassen sich Parallelen zu den Begrifflichkeiten Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit ziehen. Die gerade beschriebene These fällt in den Bereich der Chancengerechtigkeit, dabei
werden A und B im selben System der gleiche Startpunkt und die gleichen Hilfsmittel gegeben, erfahren also die gleiche Behandlung. Hört sich im ersten Moment nach dem Idealsystem an. Was jedoch anzustreben wäre, ist der Zustand von Chancengleichheit. Dabei wird A die Unterstützung, in diesem Falle ein Paar ordentlicher Turnschuhe, geboten, die nötig ist, um die Benachteiligungen auszugleichen. B bekommt dabei zwar keine zusätzliche Unterstützung, erfährt aber auch keinen Nachteil. Wieso wehrt sich ein großer Teil der Elite dann gegen dieses Konzept?

Häufig wird argumentiert, dass die schwächeren Schüler das Niveau der leistungsstarken Schüler nach unten ziehen und sie in ihrer Entwicklung zurückhalten würden. Schenkt man dieser Aussage Glauben, so entspräche die Behauptung, dass B unter keinen Nachteilen leidet, nicht der Wahrheit. Laut einer Studie, die bereits 2006 von der Volkswirtin Nicole Schneeweis durchgeführt wurde, zeigt sich aber, dass die Durchmischung von Schülern mit unterschiedlichem sozioökonomischem Status, zwar einen Effekt auf die Leistungen der Schüler hat, dieser ist jedoch kein negativer. Anhand einer Analyse der Pisa-1-Daten stellte sich heraus: „Schüler, deren eigener Status hoch ist, sind weniger beeinflusst. Bei Schülern mit geringerem Status ist der Effekt der Mitschüler größer. Diese kompensieren quasi das, was die Eltern der Schwächeren nicht leisten können.“ Die leistungsstärkeren Schüler leiden unter keinem Nachteil und erfahren kaum Veränderungen, während leistungsschwächere Schüler vom gemeinsamen Lernen profitieren.

Überträgt man die Ausdrücke Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit auf das momentane Schulsystem, so gilt das Prinzip der Chancengerechtigkeit. Nur die momentane und innerschulische Leistung eines Individuums ist von Bedeutung. Wer den Standards nicht gerecht wird und schwache Leistungen erbringt, muss sich wohl oder übel dem System beugen und dem Weg zum Pflichtschulabschluss folgen. Dies wäre gerecht, wenn hinter schulischem Versagen wirklich die Fähigkeiten der Schüler ständen, viel mehr aber bestimmen die Umstände und Belastungen eines Einzelnen über die Konzentrations- und Lernfähigkeit. Um solche Fehlurteile zu verhindern, müssten betroffenen Schülern zusätzliche Unterstützungen geboten werden, um ihnen die gleichen Chancen wie ihren Mitschülern zu ermöglichen. Die Durchsetzung dieses Ideals liegt in den Händen der gebildeten Schicht.

Dass es in diesem Konflikt um weit mehr als ein geschenktes Paar Turnschuhe geht, liegt auf der Hand. Vielmehr stehen die Macht und die Privilegien der Elite auf dem Spiel. Wissen ist Macht. Macht über die Unwissenden. Macht, die verloren geht, wenn wir den Beherrschten nicht nur die Werkzeuge geben um sie von ihren Fesseln zu befreien, sondern auch gleichzeitig erklären, wie diese zu benutzen sind. Ein Risiko, das jene, die vom momentanen System profitieren, nicht bereit sind einzugehen. Wer bleibt sonst übrig, um die primitiven, undankbaren Arbeiten zu verrichten, auf deren Boden sie ihren Reichtum und ihre Macht aufbauen? Der Grund für das kontinuierliche Bestehen dieses Systems und das Schweigen der Masse, ist das Geschick mit welchem den weniger privilegierten Schichten vorgespielt wird, gleiche Chancen auf Bildung und Wissen zu bekommen. Dabei wird dem Menschen gerade so viel Wissen ermöglicht, um die Illusion zu bewahren, aber nicht genug um sich zu befreien.

Miriam Christa
Musikgymnasium Feldkirch, 9m