Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
Das war so ein richtig verhatschter Montagmorgen. Erst mit dem falschen Fuß aufgestanden, dann nur so durch die Stunden gestolpert, bis… ja, da muss ich jetzt erst einmal Bettina Barnay Rosen streuen: Bis sie mir nämlich vergangene Woche „Smile“ auf den virtuellen Plattenteller gelegt hat. Manchmal ist Internet ja ein Segen. Nach wenigen Klicks erhob Thomas Quasthoff seine Stimme. Da zog ich leise die Tür hinter mir ins Schloss und nach 4:37 Minuten betrat ich diese Woche noch einmal: Runderneuert, aufgeräumt. Was Musik im rechten Augenblick so alles vermag!
Die Antwort auf Bettinas Frage hat vermutlich Kopfzerbrechen verursacht und mündete jedenfalls bei mir in bassem Erstaunen. Das Lied hat nämlich Charlie Chaplin 1936 geschrieben. Damit beschloss er seinen Film „Modern times“. Chaplin schlüpft darin in die Rolle des Landstreichers, der in der Fließbandarbeit, im unbarmherzigen Takt der großen Maschinen förmlich zerrieben wird. Aber er wäre nicht Charly Chaplin, wenn er aus dem tragikomischen Kampf mit der Stechuhr nicht als Sieger hervorginge.
Das tut er freilich weder als strahlender Held noch als „Arbeiter des Monats“. Stattdessen kauert er am Ende seines Films irgendwo im Nirgendwo zusammen mit einem Waisenmädchen am Straßenrand. Beide sehen erschöpft aus. Sie ist verzweifelt. Heulend stützt sie den Kopf in die Hände. Angesichts zahlloser Fehlschläge im Leben fragt sie nach dem Sinn von all dem. Und indirekt: Wäre es nicht besser, einfach liegen zu bleiben? Für immer?
Chaplin bindet sich indes pfeifend die löchrigen Schuhe. Als er ihre Verzweiflung bemerkt, nimmt er sie in die Arme und hält dagegen: „Kopf hoch! Wir schaffen das schon!“ Mit kräftigen Gesten flößt er dem heulenden Bündel Wort für Wort wieder Mut ein. Und weil dies ein Stummfilm ist, mag sich jeder selber vorstellen, was einen in so einer ausweglosen Situation aufgerichtet hätte. Chaplin hat Erfolg. Sie gehen weiter, schwierigen Zeiten entgegen. Aber lächelnd. Dazu erklingt die Musik: „Smile!“ Erst 1954 haben zwei Briten einen Text dazu geschrieben: Smile, when your heart is aching („Lächle, obwohl dein Herz schmerzt“). Darin heißt es schlussendlich: „Du wirst herausfinden, dass das Leben lebenswert ist. Wenn Du einfach nur lächelst!“ Was könnte man Menschen in schweren Zeiten wohl Schöneres mit auf den Weg geben?
Einer, der die Sorgen der Menschen schon sein ganzes Leben lang teilt und allen Widerständen zum Trotz Wege sucht, ihren Alltag leichter zu machen, ist Reimer Gronemeyer. Sie kennen ihn alle. Er hat schon zweimal bei uns vorgetragen. Der deutsche Theologe und Soziologe ist heute 81 Jahre alt. Aber das ficht ihn nicht an. Bis die Corona-Pandemie die Welt im Frühjahr praktisch lahmlegte, hat er im Auftrag der deutschen Bundesregierung in Äthiopien gearbeitet, wo sich Teile der billigproduzierenden Textilindustrie hin verlagert hat. Er sollte dort menschenwürdige Arbeitsbedingungen schaffen. Dann war über Nacht Schluss. Corona machte Reisen unmöglich. Und Gronemeyer wandte sich anderen Aufgaben zu: Der Gießener Soziologe untersucht seit März 2020 die Folgen der Isolation in Pflegeheimen. Denn mit dem Lockdown kam die Einsamkeit.
Gronemeyer war zuletzt 2019 in Vorarlberg zu Gast. Er pflegt u. a. eine enge Freundschaft mit Kaspanaze Simma. 2019 hat er zudem sein jüngstes Buch veröffentlicht mit dem Titel „Tugend. Über das, was uns Halt gibt“.
Jetzt erscheint uns der Begriff Tugend schon reichlich verstaubt, oder? Aber Gronemeyer fügt den altbekannten Tugenden noch neue hinzu, darunter die Sanftmut und die Gelassenheit. Jetzt werden Sie zurecht fragen: Sollen wir in Zeiten, in denen uns ständig mehr untersagt wird, auch noch über Tugenden nachdenken? Na ja, andererseits hätten wir ja Zeit dafür. So uralte Tugenden wie die Mäßigung zum Beispiel erinnerten uns vielleicht daran, dass Unmäßigkeit uns auch dorthin geführt hat, wo wir heute stehen…
Übrigens: Bringen Sie die Kardinalstugenden überhaupt noch auf Anhieb zusammen?
Mit dieser Frage ganz im Sinne Reimer Gronemeyers wünsche ich Ihnen eine erbauliche Woche, bleiben Sie gesund und tatenfroh! Und gelassen, das vor allem,
herzlichst, Ihr
Thomas Matt
Buchtipp: Reimer Gronemeyer, „Tugend. Über das, was uns Halt gibt“, Edition Körber, 2019, 19.60 Euro