Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
diese Zeilen schreibe ich mit ölverschmierten Fingern. Die rechte Hand verunziert ein Riss. Ich bin mit dem Schraubenschlüssel abgerutscht. Aber es rührt mich nicht. Vielmehr gehört es zu diesem rituellen Tag wie die Politurflecken auf der Hose und dem Hemd. Meine Gattin hat mir freundlicherweise entsprechende Kleidung herausgesucht. Mit kindlicher Freude habe ich das fadenscheinige Hemd wiedererkannt, das vor zwei Jahren aus meinem Kleiderkasten verschwunden ist. Jetzt leuchtet es in den letzten Strahlen der Abendsonne mit dem roten Lack um die Wette, der aus dem überdachten Abstellplatz hervorlugt. Der den Passanten eben noch lüsterne Blicke entlockte, der sich gehalten über all die Jahrzehnte, der den Frühling einläutet. Jahr für Jahr.
Sie finden das sonderbar? Aber hat nicht jede und jeder von uns ein eigenes kleines Ritual? Das erste Eis in der besten Eisdiele von allen? Oder einen Blick auf die ersten Primeln, den ersten Cappuccino in einer Fußgängerzone? Es sind ja unscheinbare Dinge, von denen hier die Rede ist. Aber alle sprechen sie es mächtig aus: Jetzt ist Frühling! Mögen die Spielverderber von den Eisheiligen faseln, die Mitte Mai noch ins Haus schneien werden. Sollen sie doch! Das kurze Gastspiel ändert nichts: Der Frühling hat gewonnen, sobald er sich im Herzen eingenistet hat.
Dann schlägt auch ihre Stunde. Sorgsam verhüllt hat sie die kalten Monate hoffentlich gut überstanden. Ihr Kümmerer naht bangen Herzens. Schon die graue Hülle zurückzuschlagen, beschleunigt seinen Ruhepuls. Dann folgen schüchterne Beweise ehrfürchtiger Zuneigung. Hände streichen ihr über die Flanken, tätscheln das ausladende Heck. Natürlich muss sofort allerhand geputzt und poliert werden. Denn selbst Damen von zeitloser Schönheit machen sich erst frisch, ehe sie der Welt den Atem rauben. Drei Tritte auf den langen Hebel des Kickstarters erwecken sie schließlich erneut zum Leben. Sie knattert los, den Gratulanten entgegen: Denn die Vespa wird heuer 75.
Meine Gattin stellt einen Espresso neben den Laptop und verstrubelt mir die Haare. Dann zieht sie sich lachend zurück. Ich bin gerade von der ersten Ausfahrt zurückgekehrt und nur bedingt zurechnungsfähig.
Die Vespa wurde in der Toskana erfunden. Im Städtchen Pontedera standen 1946 die Überreste der zerbombten Flugzeugfabrik Piaggio. Doch Enrico Piaggio hatte die zündende Idee. Aus dem Bugrad eines Flugzeugs und einem 98-Kubikzentimeter-Motor entwickelte er zusammen mit dem Luftfahrtingenieur und Erfinder Corradino D’Ascanio den kleinen Motorroller mit den nachgerade sündhaften Formen, der bis heute wie kaum ein anderes Produkt italienisches Lebensgefühl in alle Welt trägt.
Mein persönliches Exemplar dämmerte lange in einem vergessenen Winkel im Haus meiner Schwiegereltern dahin. Schon reichlich angerostet und mit Schrammen übersäht, ließ sich die Vespa dennoch starten. Das Getriebe gab nur mehr den zweiten Gang frei. Die Fahrt von Müselbach nach Hard im zweiten Gang dauert mit den nötigen Pausen etwa zwei Stunden. Im Schritttempo begann so eine innige Beziehung. Heute läutet das Erbstück gepflegt restauriert stets das Ende der kalten Jahreszeit ein.
Die erste Fahrt führt nach Bregenz, am Milchpilz vorbei, auch so einem Relikt aus den 1950er Jahren. Die Hermann Waldner AG aus Wangen hatte ihn am 20. Juli 1953 nach Bregenz verpflanzt, inklusive Schlagsahnezapfer und Eismaschine „Rapidchen“. Heute betreibt ihn Sabina Sakic, deren Mama schon über 40 Jahre lang Gäste und Einheimische bewirtet hat.
Der Pilz stand übrigens früher auf der anderen Seite des Bahnübergangs, ganz nahe am „Zigeunerstüble“, einer eher einfachen, mit Bastmatten verkleideten Ausschank, die eine Zeit lang von Oskar Spang betrieben wurde. Damit schließt sich der Kreis zur Vespa, denn der Pressefotograf aus der Bukowina, der nach dem Krieg in Bregenz gestrandet war, zählte wohl zu den versiertesten Rollerfahrern überhaupt. Mit Trenchcoat, Schieberkappe, Sonnenbrille und seiner Leica hat er Jahrzehnte auf der Vespa Fotojournalismus betrieben und mit mehreren hunderttausend Bildern eine der größten Fotosammlungen des Landes hinterlassen, die heute in der Landesbibliothek und im Stadtarchiv Bregenz verwahrt wird. Wenn er in die Redaktion kam, erschien er uns Jungen wie ein Schauspieler, der eben einem Schwarzweißfilm entlaufen war. Wir haben ihn sehr gemocht.
Zu seinem achtzigsten Geburtstag durfte ich ihn porträtieren und habe ihn zuhause besucht. Nach einer Weile zog er unter der Matratze seines Bettes verschmitzt lächelnd eine Dokumentenmappe hervor, die seinen Pass und alle seine Papiere barg, bis hin zu seinem Gesellenbrief aus der Vorkriegszeit. Bis zu seinem letzten Tag blieb der ehemalige Flüchtling in jedem Augenblick seines Lebens zum plötzlichen Aufbruch gerüstet…
So schwingt in jedem Frühlingsbeginn auch ein Stück Erinnerung mit. Vielleicht ist dies ja die herausragendste Eigenschaft des roten Stück Metalls, das auf Hochglanz poliert dem Sommer entgegenschlummert.
Es lädt zu Zeitreisen ein…
Bleiben Sie neugierig und gesund,
herzlichst,
Ihr Thomas Matt
Ps.: Bei Russmedia ist 1999 das Buch „Oskar Spang – seine Leica – seine Vespa – sein Leben“ erschienen. Herausgegeben hat es Peter Marte.