Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
immer wieder löst sich einer der schlaksigen Kerls aus der Gruppe und spielt mit dem Kleinen. Der mag vier, höchstens fünf Jahre alt sein. So ein Dreikäsehoch verfügt über ein schier unerschöpfliches Reservoir an Energie. Deshalb wechseln sie sich ab. Seine älteren Brüder, Onkeln, beste Freunde? Vermutlich von allem etwas. Sie sprechen Ungarisch. Eine große Familie verbringt da den Abend am Bodenseeufer und grillt. Triumphgeheul teilt uns mit, dass der Kleine eben ein Tor geschossen hat. Sein großer Gegner steht breitbeinig da. Das runde Leder kullert hindurch. Schöner geht nicht.
Ach, Bettina, möge Deine Bienenweide sprießen, auf dass Dich durchdringendes Summen empfängt, wenn Du nach Deiner Rückkehr aus dem Südtirol wieder auf Deinen Balkon trittst! Südtirol – wissen Sie noch, wie sich das anfühlt? Diese fette, fruchtbare Erde, das ganze Land steht jetzt in Blüte, draußen sitzen, Campari süffeln, sich vom Dialekt liebkosen lassen, und später vielleicht Vinschgerln, Speck, ein bisserl Käse schmausen? „Via con me“ singen die fünf Herren von Aluna aus den Lautsprechern meines Computers, aber ich kann nicht. Ich schick Euch die Bettina! Schwarzacher Nordhang, beste Lage.
Jetzt flennt er, der kleine Bub. Weltschmerz. Einer der Großen hält ihn auf den Knien. Sandor – so heißt er – hat den heißen Kopf an seine Schultern gelehnt und wimmert. Der Große, der aussieht wie ein Profifußballer im Trainingscamp, hält ihn fest, nippt nebenbei an der Bierdose und unterhält sich mit den anderen. Plötzlich klatschen ein paar große Wellen ans Land, schon ist alles Unglück zerstoben. Der Kleine fliegt auf und davon.
Die ganze Zeit zermartere ich mir das Gehirn, aber ich hab zu der Zeit, als Bettina in einem Kiosk am See Rum, Eis und sogar einmal ein Hirschgeweih losschlug, bestimmt auch in der Cornetto-Liga gespielt. Ob ich ihr meine Wünsche auch über den Tresen so richtig vor den Latz geknallt habe? Das will ich nicht hoffen! Denn damit hat sie ja so recht: Ein wenig Freundlichkeit und gegenseitige Achtung machen das Leben um so vieles lebenswerter!
Das Ufer an der Slipanlage des Bregenzer Segelhafens liegt voller Steine. Man kann barfuß gehen und schauen, wie lange man’s aushält. Oder ausrutschen wie das Mädchen, das seine Unachtsamkeit jetzt mit einer nassen Hose und dem ersten Bad im kristallklaren Wasser bezahlt. Oder man wird plötzlich der wundervollen Formen gewahr, die einem da zu Füßen liegen: Erst lief er hin und her, dann beobachtete er einen Schwan in sicherer Distanz. Jetzt sitzt Sandor am Boden und baut aus immer schöneren Kieseln wackelige Türme. Zwei Burschen und eine junge Frau aus der Gruppe haben sich zu ihm gesellt und bauen mit. Der Wind weht vielstimmiges Lachen herüber.
Wenn eine eine Reise tut, sollte sie zu lesen haben. Aber das schreibt sich so leicht. Wie war das? Freundlichkeit, Aufmerksamkeit und Hoffnung sollten durch die Zeilen schimmern? Ganz schön anspruchsvoll! Aber ich geb’ mir mal Mühe und kram in meinen Bücherwänden: Als erstes fällt mir „Tief in Bayern“ in die Hände. Manchmal hilft ja ein einfacher Perspektivenwechsel.
Dass wir Europäer als Ethnologen die Welt erforscht haben, weiß jeder. Deshalb können wir über nordkenianische Verlobungsriten und südpolynesische Begräbnisrituale erschöpfend Auskunft geben, knicken aber bei der Frage nach der zweiten Strophe unserer Landeshymne regelmäßig ein. Was aber, wenn mal uns einer erforschte? Dies ist geschehen. Also nicht uns, sondern unseren nördlichen Nachbarn. Als Autor wird der gebürtige Texaner R. W. B. McCormack angegeben, er könnte aber auch gut und gerne Gert Raithel heißen. Er beginnt sein Buch mit den Worten: „In den Human Relations Areas Files, einer unverzichtbaren ethnographischen Datenbank, sind nicht weniger als 11.000 Seiten über die Navajos gespeichert; über die Bayern kein Wort.“ Dann macht er sich auf knapp 300 Seiten daran, beschämende Wissenslücken zu füllen.
Themen, wie Politik („In kritischen Wahlbezirken werden die Bleistifte in den Wahlkabinen so kurz angebunden, dass nur der zuoberst stehende Wahlvorschlag angekreuzt werden kann“), Sprache („Traditionsbewusste Bauern legen Wert auf sprachliche Genauigkeit. Der Bauer liegt bei der Bäuerin, aber er flaggt bei der Magd“), Religion, Ehe und Liebe, Essverhalten usw. werden vergnüglich behandelt, gespickt mit Zitaten, etwa von Gerhard Polt oder Sepp Maier. Dieses Buch strotzt geradezu vor Freundlichkeit und atmet Hoffnung, denn gegen einen solchen Menschenschlag ist ein Virus machtlos.
Das zweite Buch trägt den Titel „Liebhaber ohne festen Wohnsitz“ und ist der Feder von Carlo Futtero und Franco Lucentini entsprungen. Man kann sich den amüsanten Kriminalroman auch vorlesen lassen. Sophie Rois hat die Geschichte des David Ashver Silvera und einer römischen Principessa als Hörbuch eingelesen. Es lohnt sich! Sie werden sich in Silveras „Ah“ verlieben…
Und dann wären da noch „Rheinsberg“ von Kurt Tucholsky und „Die dritte Luft“ von Christoph Ransmayr, „Seide“ von Alessandro Barrico und „Hallo, Mister Gott, hier spricht Anna“, von dem wir bis heute nicht wissen, wer es geschrieben hat. Wie sagt Anna? „Der Unnerschied von einen Menschen und einen Engel ist ganz einfach: Das meiste von ein Engel ist innen, und das meiste von ein Menschen ist außen…“
Nein, am 23. April feierten wir den Welttag des Buches, gerade, weil es uns seit Menschengedenken erschüttert und verblüfft, uns mit Hoffnung und Zuversicht beschenkt. Die schönsten Geschichten freilich schreibt noch immer das Leben.
Der kleine Sandor ist inzwischen eingeschlafen. Er hat sich auf einer Decke in der Wiese zusammengerollt. Wovon er wohl träumen mag? Da stellt einer der jungen Burschen sein Bier ab, klaubt seine Jacke vom Boden und schlendert zu dem Kleinen hinüber. Dann deckt er ihn zu. Und die ganze Zärtlichkeit der Welt liegt in dieser einen, fürsorglichen Geste…
Bleiben Sie neugierig und vor allem: gesund!
Herzlichst, Ihr
Thomas Matt