Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
jetzt bin ich einigermaßen geplättet, weil ich mich doch schon in einem Universum aus Sahnecreme und Schokoguss gefangen sah, mitternachts schweißgebadet erwachte, kurz bevor mich ein cremetriefendes Eclair erschlug. Die deutsche Sprache nennt es übrigens „Liebesknochen“ und daran sehen wir, dass Übersetzungen nicht immer zum Vorteil gereichen. Traumwandelnd zwischen Rosette und Vochazer, Café Dietl und … Sie wussten eh, dass die beste Bananentorte im Café Danner im Hatlerdorf serviert wird … ergab ich mich fast schon dieser zuckersüßen Endlosschleife. Aber dann las ich die kleine, unscheinbare Frage, mit der uns Bettina Barnay in einem gewaltigen Befreiungsschlag erlöst.
Mit einem letzten, exquisiten Stück Patisserie.
Das muss einem erst einmal einfallen!
Die berühmteste russische Balletttänzerin aller Zeiten, nach der sie fragte, hieß Anna Pavlova. Sie kam 1881 in St. Petersburg zur Welt und starb 1931 auf einer Tournee an einer Lungenentzündung in Den Haag. Sie tanzte auf der ganzen Welt. Ein Asteroid trägt heute ihren Namen, eine russische Silbermünze und … eine Torte. Ein Kunstwerk aus Baiser (außen kross und innen weich), dazu Sahne und Beeren. Es soll an das Tutu, das Ballettröckchen der leichtfüßigen Tänzerin erinnern, das im Wesentlichen aus Tüll besteht. So leicht, so berückend schön und doch vergänglich, ein Genuss für den Augenblick ist diese frühlingshafte Rezeptur, die in Australien und Neuseeland gleichermaßen als Nationalgericht verzehrt wird. In beiden Ländern trat die Pavlova auf. Sie muss ungeheuren Eindruck hinterlassen haben. Bis heute balgen sich beide Länder um das Urheberrecht der süßen Referenz, so wie die Bosnier und Serben sich die Urheberschaft der Ćevapčići streitig machen. So ist der Mensch.
Also werfen wir einen letzten verzückten Blick auf diese hauchzarte Verführung höchster Backkunst und wenden uns dann der Tänzerin zu, dem Ballett, der Bühne, dem Orchester. Aber in den Kulissen bleibt es eigentümlich still und dunkel. Kein Applaus brandet auf, niemand verbeugt sich. Zwei Opernmäuse lassen gelangweilt ihre Schwänzchen vom Schnürboden herabbaumeln. Wir müssen uns erneut gedulden, auf dass sich hoffentlich im kommenden Jahr der Vorhang wieder hebt.
Übrigens: Was tut eine Ballerina eigentlich, wenn ihre besten Jahre vorüber sind? Tanzen ist ja ein hartes Geschäft. „Auf der Bühne stehen kann man nur bis 40.“ Diesen Satz hören die meisten Tänzerinnen und Tänzer, wenn sie ihre Ausbildung beginnen. Was kommt danach? Mehr als schmerzende, oft deformierte Füße? Ja, manchmal. Viel mehr!
Zeitreise: Ende Dezember, 2010. In Vorarlberg fällt der Schnee in dicken Flocken. Vor Havanna sinkt die Sonne als oranger Ball in den Golf von Mexico. Am Malecón wird getanzt. Auf der Terrasse des Hotel Nacional servieren sie Cuba Libre. Die Stimmung ist aufgekratzt. Bald ist Buchmesse. Dann pilgern Hunderttausende in die Fest St. Carlos und als Höhepunkt wird Fidel Castro einen Dialog mit Intellektuellen halten. Das heißt, er wird auf exakt drei Fragen jeweils rund eine Stunde lang antworten. Aber er ist milde geworden. Trägt jetzt Trainingsanzug statt Uniform. Den Zigarren hat er abgeschworen. Das steht alles in der „Granma“, der offiziellen Zeitung der Kommunistischen Partei Cubas, benannt nach der Yacht, mit der Fidel Castro, Che Guevara und 80 weitere Rebellen 1956 in Kuba gelandet waren.
Aber Fidels Gesundheit ist nicht die Titelstory. Die gehört Alicia Alonso allein. Denn „la Ballerina Assoluta“ wird 90. Formatfüllend ziert ein Foto die Titelseite. Es zeigt die Diva in einem Korbsessel, die Beine übereinandergeschlagen, das Haar unter einem roten Kopftuch verborgen. Ihr gegenüber sitzt Raúl Castro. Er hat inzwischen die Amtsgeschäfte seines Bruders übernommen. An diesem Tag gerinnt ihm die Pflicht zur Freude: Er ist gekommen, um zu gratulieren. Einen Blumenstrauß hat er ihr mitgebracht und … Flakons. Denn er hat es sich nicht nehmen lassen, in Havannas berühmtester Parfümerie einen Duft kreieren zu lassen, der fortan ihren Namen trägt: „Alicia“. In den kommenden Tagen wird diese Szene im kubanischen Fernsehen stets aufs Neue wiederholt: Ganz devot, beinah scheu hält ihr der Staatspräsident die kristallenen Flakons entgegen, die Alicia Alonso mit unnachahmlicher Grandezza entgegennimmt, als gewährte sie eine Huld. Was für eine hinreißende Geste!
Ja, Kuba hat etwas Zeitloses. Und deshalb will ich diese Post auch hier beenden. Draußen ist es eh kalt genug. Erwärmen wir uns am Gedanken an die Karibik. Wenn Sie Lust verspüren, allen Ausgangssperren zum Trotz noch mehr kubanische Luft zu schnuppern, dann lesen Sie doch ein Buch von Leonardo Padura. Der kubanische Autor hat mit Mario Conde einen rauen, eigenwilligen Kommissar erschaffen, dem man vergnüglich auf den Fersen bleibt, wenn er wie ein Wolf durch die Straßen der Hauptstadt stromert. Zuletzt erschienen: „Die Durchlässigkeit der Zeit“, im Unionsverlag.
Mit einem Schluck Rum und einer guten Zigarre übertaucht man außerdem die schlimmste Corona-November-Nebel-Lockdown-Depression. Apropos Zigarre: Eine der ältesten Zigarrenmanufakturen Kubas trägt den Namen des vielleicht berühmtesten Liebespaars der Literaturgeschichte. Und es ist nicht Tristan und Isolde…
Bleiben Sie gesund und uns gewogen,
herzlichst,
Ihr Thomas Matt