Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
Der Wind liebkost die Haut mit tausend Nadelstichen, festgetretener Schnee knirscht vornehm unter den Schritten, dann gibt der Wald die Lichtung frei und mit ihr einen strahlend blauen Himmel, darin die Sonne, die nun Tag für Tag an Kraft zulegt: Willkommen in diesem neuen Jahr 2021, das schon so vielversprechend begonnen hat! Den Nebel vertreibt es immer öfter aus den Niederungen, die Verzagtheit weicht aus unseren Herzen, Impfen und Testen eröffnen Perspektiven, und Verrückte werden jenseits des großen Teichs der Orte verwiesen, an die sie partout nicht hingehören. Vielleicht wird ja doch noch alles gut, denkt sich der unverbesserliche Optimist, und die noch unbelehrbarere Variante davon hat schon wieder Bilder im Kopf…
Dieser nimmermüde Schwärmer schaut nach vorn in den Herbst und erblickt dort Menschen, wie sie vergnüglich dem Dornbirner Kulturhaus zustreben. Bettina Barnay strahlt im Foyer mit Renate Erhard um die Wette, Christine Rhomberg plaudert angeregt mit dem Referenten, der das neue Semester eröffnen soll. So richtig eröffnen – das stell man sich mal vor – am Rednerpult, vor richtigen Menschen! Alle Vorstände und Beiräte sind wieder da und tragen Konfirmandengesichter zur Schau. Auf der Hinterbühne nestelt der Moderator nervös an seinen Zetteln. Der weiß ja gar nicht mehr, wie das geht. Nur die Crew im Kulturhaus hat die Ruhe weg: Thomas an der Regie, „Mike“, der eben per Knopfdruck den Bildschirm freigibt – alles wie immer. Oder besser noch, wie früher!
Dann erstirbt das Licht im Saal. Ein Raunen geht durch die Reihen. Jetzt wird es mucksmäuschenstill. Da läutet ein Handy. Und im ganzen Saal gleitet ein Lächeln der Erinnerung über die erwartungsfrohen Gesichter.
Wir sehen, dieses Jahr hat noch ganz schön zu tun, wenn es unsere Sehnsüchte erfüllen will! Aber die Tage werden ja länger, und mit ihnen wachsen Triebkraft und Begeisterung. Wir planen schon wieder und haben tausend Ideen in unseren Köpfen. Bis zu deren Verwirklichung sollen unsere Montagsbriefe ein wenig Kurzweil schaffen.
Aber Sie werden vielleicht fragen: Habt Ihr denn gar keine Angst? Nach all den Unsicherheiten und Hiobsbotschaften der vergangenen elf Monate gar keine Angst? Wo man doch morgens nicht mehr weiß, was abends noch gilt? Doch, schon ein wenig, aber Angst ist die Mutter der Zuversicht, nämlich so:
Die Pandemie hat uns alle aus der Oberfläche unseres Alltags in Abgründe gestoßen von Bedrohung, Krankheit und Verlassenheit. Der deutsche Philosoph Wilhelm Schmid hat die Folgen im Frühsommer 2020 für den NDR betrachtet. Der Angst hat er dabei die Zuversicht wie selbstverständlich beigesellt. Schmid ist kein Unbekannter. Er war auch schon in Dornbirn zu Gast, Sie erinnern sich? Im Mai 2014 hat er über Gelassenheit gesprochen.
Aber zurück zur Angst. Die schien doch eigentlich überwunden. Die Moderne verhieß Erlösung im Diesseits. Sie räumte gründlich auf mit der Angst vor Teufeln und Gespenstern. Sollten nicht Wissenschaft, Wirtschaft, Technik und Politik die Menschen endlich befreien? Aber der Einzelne wurde vor allem seiner Geborgenheit in sozialen, traditionellen, religiösen Bindungen beraubt. Karl Jaspers sieht den modernen Menschen „wie einen verlorenen Punkt im leeren Raum versinken“, wenn er die Verletzlichkeit seiner Existenz erfährt.
Auch uns wurde im vergangenen Jahr ein paar Mal bang, und mit Wilhelm Schmid denken wir daran, dass das Wort „Angst“ auf das lateinische angustía zurückgeht, was so viel bedeutet wie Engpass und Bedrängnis. Die Weite der Möglichkeiten reduziert sich auf eine einzige, in ihrer Enge bedrohliche Wirklichkeit.
Nur, Angst hat auch Ihr Gutes. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard nennt sie gar die „bestmögliche Lehrerin des Lebens“. In der Corona-Krise hat sie zur rechten Zeit dafür gesorgt, dass wir uns wappnen.
„Wenn sonst nichts dazu führt, sich um sich und dieses Leben zu kümmern, dann ist es die Angst“, schreibt Schmid. Sie macht uns unruhig, denn sie stellt uns Fragen: Ist das Leben, so wie es gelebt wird, bedroht? Ist das Ich auf dem richtigen Weg? Sind die Verhältnisse, die auf das eigene Leben einwirken, schädlich oder förderlich? Kurzum: Die Angst und die daraus resultierende kluge Sorge macht uns sensibel für uns selbst, die anderen, die Welt. „Sie befördert die Vorsicht, Rücksicht, Umsicht und Voraussicht.“
Entscheidend ist Schmid zufolge nur, ob wir den Stachel der Angst aufnehmen, um ihn kreativ zu wenden. „Denn es ist merkwürdig, ausgerechnet in der Erfahrung der Angst scheint ein Mensch den tieferen Atem schöpfen zu können, der nötig ist, um in kommenden Zeiten neue Höhen des Lebens zu erklimmen.“ So erwächst aus der Angst Zuversicht. „Genau dann, wenn wir unsere Ängste ernstnehmen und Vorsorge treffen, um für alle Fälle gut gerüstet zu sein, können wir auch voller Zuversicht sein.“
Diese Zuversicht soll uns durchs Jahr tragen. Schmid empfiehlt als überaus hilfreich den „Blick auf das mögliche Schöne und Bejahenswerte des künftigen Lebens“. Zum Beispiel den Gedanken an einen beliebigen Montagmorgen im Dornbirner Kulturhaus…
Bleiben Sie gesund,
von Herzen alles Liebe,
Thomas Matt
PS: Von Wilhelm Schmid erscheint im März 2021 neu bei Suhrkamp: „Heimat finden. Vom Leben in einer ungewissen Welt.“ Im Internet publiziert Schmid unter www.lebenskunstphilosophie.de