Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,

Es ist Zeit für Geständnisse? 

Nun denn. Dann darf ich meine Sozialisierung in musikalischen und philosophischen Angelegenheiten auch nicht schuldig bleiben. Zuerst zur Musik. Meine frühkindliche Prägung beschränkt sich im Wesentlichen auf die sonntäglichen Gottesdienste und den vielstimmigen Chor der Gläubigen. Manchmal hatten wir Glück. Dann stand eine ältliche Dame in der Reihe vor uns. Sie trug ein strenges Kostüm, aber ein kesses Hütchen. Offenkundig trauerte sie einer Karriere als Opernsoubrette nach. Das tat sie lautstark. Sie trieb die Andacht in ungeahnte Höhen. Mir brachte das väterliche Knüffe ein, weil ich ausgerechnet in Gesangspausen los zu prusten pflegte. An anderen Sonntag lauschte ich staunend der profunden Stimme meines Vaters. Mein Vater sang wie in Nebelhorn. 

Solcherart vorgebildet betrat ich in zarten Jahren das Musikzimmer des Kollegiums Mehrerau. Hier herrschte Pater Robert Baumkirchner, ein Oberösterreicher von olympischen Ausmaßen. Aus wenigstens zwei Metern Höhe und mit der ganzen Inbrunst seiner gut 150 Kilo Lebendgewicht suchte er den kleinen Schädeln die Feinheiten von Violin- und Bassschlüssel einzubläuen. Er dachte in Tonleitern, wir an die Sprossenwand. Er sagte „Harnoncourt“, und uns stand drohend die nächste Französisch-Schularbeit vor Augen. Nikolaus Harnoncourt war damals übrigens noch jung und dirigierte erst seit wenigen Jahren das Amsterdamer Concertgebouw-Orchester. Er produzierte gerade jene Sprachbilder, die Sabine M. Gruber dann 2003 ihrem Buch „Unmöglichkeiten sind die schönsten Möglichkeiten“ anvertraute. Bettina Barnay hatte im vergangenen Brief danach gefragt, Sie erinnern sich? 

Pater Robert war Realist. Er sah die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens klar, wir auch, aber das führte erst in der Oberstufe zur ersehnten Verbrüderung: „Wisst’s was, geh’n ma a Bier trinken!“ Davor litten wir gehörig, im Unterricht, im Knabenchor. Dabei war er ein feines Haus. Als ich eines Tages in seiner Klosterzelle etwas abholen musste und in seiner privaten Plattensammlung Franz Zappa erspähte, hob das sein Ansehen ungemein. Was aber die höhere Musiklehre anlangt, entsprach ich mehr einem Zitat von Flann O’Brien: „Und er überließ das fragende Oval seines Gesichtes der allgemeinen Betrachtung…“ 

So hab ich’s in musikalischen Angelegenheiten nie zu mehr gebracht als zum reinen Konsumenten: Von Vorwissen weitgehend unbelastet sitz ich im Konzert. Und freu mich. Meistens jedenfalls.

Die Philosophie ereilte uns erst in der Siebten. Jostein Gaarder hatte „Sophies Welt“ noch nicht geschrieben. Man hielt Philosophie in jüngeren Jahren für aussichtslos. Es war so schon schwer genug. Zum Unterricht schritt Abt Kassian Lauterer persönlich. „Ihr sollt Eure Perlen nicht vor die Säue werfen“ – Martin Luther hat eine Stelle bei Matthäus so übersetzt. Im vorherrschenden Fall mussten wir dem Zisterzienserorden dankbar sein, dass er von dieser goldenen Devise abwich. Wir hatten ja keine Ahnung, was uns da entgegen perlte. Die wenigen besonders hellen Köpfe verbanden mit Philosophie das Wort „symposion“ als eine Art immerwährendes Saufgelage, das erfüllte unsere adoleszenten Herzen mit vager Vorfreude. 

Freundlich und ein wenig zerstreut betrat der Abt das Klassenzimmer. Er grüßte und schrieb sodann mit Kreide und Schwung einen Satz an die Tafel: „Philosophia ancilla theologiae.“ Dann nahm er auf dem Katheder Platz. „Philosophie ist die Magd der Theologie.“ So viel Latein hatten wir inzwischen intus. Augenblicklich erhob sich der Chor der Speichellecker, der begeistert Zustimmung heuchelte. Einzelne kritzelten den Satz vorsorglich ins Heft, um ihn später auswendig zu lernen. Der Abt indes schwieg. Belustigt ordnete er die Charaktere, die sich ihm darboten. Dann schritt er zur Tafel und löschte die Wörter wieder weg. Verblüffung. Schweigen. Zufrieden besah er die Verwirrung, die er angerichtet hatte. Er hatte ja nie vorgehabt, mit uns Scholastik zu betreiben, sondern eben wirklich Philosophie. Und die ist niemandes Magd. Thomas von Aquin und Petrus Damiani, dem dieser Satz zugeschrieben wird, würden schon noch ihren Platz erhalten. Aber alles zu seiner Zeit. Erst waren die Griechen an der Reihe. Die Vorsokratiker. Und mit ihnen eine erste Ahnung vom Prinzip der Welt. Dafür muss man erst die Köpfe leerfegen, von Vorurteilen und Plattitüden befreien. Der Abt nahm eine Prise Schnupftabak aus der Tabatiere, dann ein großes Schnupftuch zur Hilfe. Wir staunten. Das war also die erste Lektion. Wir haben ihn dann ziemlich vergöttert.

Auch mein mathematisches Verständnis blieb bis heute überschaubar, und wenn man mich gefragt hätte, wäre ich bevorzugt am Zeichenbrett sitzen geblieben oder in der Bibliothek. Und doch bin ich froh, dass mir diese Wahl nicht offenstand. Das Gymnasium war vermutlich der letzte Ort, an dem mir die Welt noch als Ganzes zu Füßen lag. Später verengen ja Spezialisierungen unseren Blick. Wir sind dann Architekten und Anwälte, Facharbeiter und Handwerker. Der Alltag frisst uns auf. Und wenn die Lust am Neuen eines Tages ganz erlischt, dann tragen wir leise den vielleicht prägendsten Bauteil der menschlichen Existenz zu Grabe: Unsere Neugier. Gesät wird sie im Elternhaus. Geweckt und gehegt in der Schule. Dann erblüht sie in einem Menschenleben.

Das Montagsforum steckt voller Menschen, die sich ihre Neugier bewahrt haben. Das macht die Arbeit so beglückend. 

Und das Rätsel? Die Literaturempfehlung. Ja, richtig! Da fällt mein Blick auf einen Doppelband, den ich mir im Lockdown beim Buchhändler meines Vertrauens geleistet habe. Er enthält alle Kolumnen, die Harry Rowohlt für die „Zeit“ geschrieben hat, aber auch Aufsätze, Kritiken, Gespräche. Harry Rowohlt hat so begnadet irische Literatur ins Deutsche übersetzt, dass in einem Cartoon von Hauck & Baur ein Buchhandlungskunde zum anderen sagt: „Das Buch musst Du in der Übersetzung von Harry Rowohlt lesen. Im Original geht da viel verloren.“

Wie aber hieß Rowohlts Kolumne in der Zeit? Sie trug einen bemerkenswerten Titel…

Also dann: Bleiben Sie neugierig,

und bleiben Sie gesund,

herzlichst 

Ihr Thomas Matt