Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums!
Uns, die wir seit Aschermittwoch über wässriger Kohlsuppe brüten,
uns, deren flackernde Blicke in immer kürzeren Abständen die Ödnis unserer Kühlschränke nach Essbarem abtasten,
uns, die wir schon wenigstens drei Gramm verloren haben und völlig vergeistigt dieses Nichts im Spiegel betrachten,
uns Darbenden und Fastenden mit Paul Bocuse zu kommen, das war,
verehrte Bettina Barnay, perfide. Ach was, „abgefeimt“ möchte man schreiben, wenn nicht gar laut und vernehmlich „hundsgemein“ rufen, wie so ein stattlicher Vertreter des Ordens der Paulaner Mönche das getan hätte, die im 17. Jahrhundert in München für die Fastenzeit die Tradition des äußerst nahrhaften Starkbiers begründeten. (Die haben’s gut, die Münchner!) Aber es ruft ja schon gar nicht mehr, es säuselt nur mehr kaum hörbar, man ist ja bereits viel zu schwach … ☺
Mit Paul Bocuse stellt uns Bettina Barnay nicht nur den Koch des Jahrhunderts vor Augen, wie ihn Gault-Millau ab 1989 betitelte. Der Maître der Nouvelle Cuisine war außerdem ein beherzter Gegner jenes Minimalismus, der Gäste mitunter quälend lange auf den weißen Porzellantellern nach der gereichten Speise suchen lässt. Nein, Ameisenkeulen auf Schnittlauchsalat kam ihm nicht aus der Küche. Die musste regional, frisch und einfach sein. In seiner L’Auberge du Pont de Collonges nahe Lyon soll es mitunter durchaus auch deftig zugegangen sein. Als er dann mit 91 Jahren die Niederungen irdischer Gelüste für immer verließ, nahmen 1500 Chefköche aus aller Welt von ihm Abschied. Die Orgel in der Kathedrale von Lyon intonierte sein Lieblingslied: „Edith Piafs „Non, je ne regrette rien“ (Nein, ich bereue nichts). Da hatte er in seiner Autobiografie bereits wissen lassen, dass er sein Leben mit drei Frauen gleichzeitig geteilt hat.
Wie gesagt, er wurde 91.
Aber ich nehme die Herausforderung an. Ein wenig zittrig, aber doch entschlossen, klaube ich den Fehdehandschuh in Form eines Topflappens vom Boden und suche nach geeigneter Entgegnung. Kurz streift meine Erinnerung an Carmen Posadas an. Aber in ihrem 1998 erschienenen Roman „Pequeñas infamias“ (Kleine Infamien) bleibt die Küche kalt. Die Autorin aus Montevideo hat Chefkoch Néstor Chaffino gleich eingangs der 280 Seiten bei minus 30 Grad mit steif gefrorenem Zwirbelbart in seine eigene Kühlkammer gestellt. Was einzig fehlt, ist ein kleines Notizheft, dessen Inhalt dem Roman den Titel gab, und was folgt, ist eine hinreißend bissige Gesellschaftskomödie im Gewand eines klassischen Kriminalromans. Herrlich zu lesen, aber es genügt noch nicht. Nicht für Bocuse. Also greife ich nach einem schmalen Büchlein, das als Nr. 1267 im Jahr 2006 im Insel-Verlag erschienen ist. Der darin von Otto Weinreich ins Deutsche übertragene Text ist viel älter. Geschrieben hat ihn ein gewisser Titus Petronius Arbiter. Er tat das zur Zeit Kaiser Neros und folglich in Latein. Tacitus hat ihn beschrieben, wenngleich als „Lurch aus Neros Gefolge“ wenig schmeichelhaft.
Vielleicht erinnert Sie der Name Petronius an den großen Peter Ustinov in der Rolle des Kaisers Nero. Im Hollywoodstreifen „Quo Vadis“ erfährt er vom Tod des Petronius. Unvergesslich, wie er sich ein winziges Glasfläschchen ans Augenlid hält und weinerlich verkündet: „Eine Träne für Petronius!“ Mit dem Adeligen verlor er immerhin seinen obersten Geschmacksberater. Petronius war „Arbiter Elegantiae“, Schiedsrichter des feinen Geschmacks. Und er war ein begnadeter Spötter, das vor allem.
Von seinem Werk Satyricon, das in der Renaissance wiederentdeckt wurde, ist nur wenig erhalten. Aber die längste überlieferte Episode, das „Gast des Trimalchio“, die hat’s in sich. Es ist dies die Geschichte eines ehemaligen Sklaven, der es nach seiner Freilassung zu so viel Reichtum gebracht hat, dass er den Landsitz seines inzwischen verstorbenen ehemaligen Besitzers erwirbt und fortan in dem Haus zu Tisch liegt, in dem er vor kurzem noch bedient hat. Ein Neureicher also, ein Emporkömmling, der jetzt mit Verwalter und Knechten und Vieh den Landedelmann spielt. Und den die Gesellschaft im Leben nie anerkennen wird. Also sucht er sie zu beeindrucken. Und weil es damals weder Fernsehen noch Internet gab, lädt dieser Trimalchio eben Gäste ein. Der Rest ist Geschwätz und Irrwitz, ein pralles, grelles Porträt einer Gesellschaft, deren Reiche in solchem Überfluss lebten, dass das Wort Dekadenz wie eine hilflose Untertreibung verlischt. Ein derber Text, denn Petronius beherrscht das Vulgärlatein wie kein Zweiter. Vor allem aber gewährt er uns Einblicke in eine Küche, die an sich selber irre wird: Da werden Haselmäuse, die mit Honig und Mohn bestreut wurden, gereicht, aus Teig geformte Pfaueneier, die fette Feigenschnepfen in sich bergen, einem gebratenen Wildschwein entweicht zum Gaudium der Gäste ein Schwarm Drosseln…
Genug? Genug. Wer es sich zutraut, der lese dieses Sittengemälde und wird seine Freude daran haben, wie unverschämt uns der Höfling Petronius wie durch ein Zeitfenster die Gesellschaft der Emporkömmlinge vor beinah 2000 Jahren belauschen lässt. Auch die kulinarischen Extravaganzen verfehlen ihre Wirkung nicht. Geradezu geläutert kehren wir zur Kohlsuppe zurück.
P.s.: Das „Gastmahl des Trimalchio“ wurde übrigen 1969 verfilmt, von einem römischen Regisseur natürlich. Sie kennen bestimmt seinen Namen.
Bleiben Sie neugierig und vor allem gesund,
herzlichst,
Ihr Thomas Matt