Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,

das ist mir jetzt ein bisserl peinlich, denn statt wie alle Welt gebannt ins gleißende Bühnenlicht zu starren, wo eine noch immer unangenehm lebendige Ballerina namens Corona unverdrossen ihre Pirouetten dreht, geht mein Blick im Orchestergraben der Erinnerung spazieren. Und Schuld hat Bettina Barnay. Jawohl! Dass ihr im Angesicht meiner fundamentaltheologischen Frage nach den sieben Kardinalstugenden als erstes das Wort „Kardinalschnitte“ in den Sinn kam, hätte ich ja noch hingenommen. Aber dass sie offensichtlich in Kindertagen regelmäßig dasselbe Kaffeehaus besucht hat wie ich, um sich dort mit dieser Köstlichkeit aus Bisquit, Baiser und Kaffeecreme einzudecken, schlägt dem Fass den Boden aus! Wir sind also quasi als „Dreikäsehöche“ jahrelang aneinander vorbeigeschrammt und hatten nur Sinn fürs Backwerk!

Aber das Café Rosette war auch ein ganz besonderer Ort. Am Eingang zum Steinebach gelegen blickte ein kleiner Schanigarten auf die Bregenzer Bucht. Auf der anderen Straßenseite erhebt sich heute noch das Hotel zum grauen Bären der Familie Seyrling, die in ihrem weiten Hof – Vater Seyrling war ein Automobilist vom alten Schlag – geräumige Garagen vermietete. 

Als Kind liebte ich es, an der Hand meines Vaters ins Café Rosette zu schlendern. Er unterhielt am Steinebach sein kleines Büro. Sein Peugeot 504 ruhte in einer von Seyrlings Garagen. Im Rosette nahm er gerne „ein Achtele“. Uns empfing dort die Frau Stötzlin. Die hinreißende Seniorchefin war klein von Wuchs. Wir begegneten einander also in Augenhöhe. Die gebürtige Tirolerin trug ihr Haar immer in einem sorgsam geflochtenen Knoten, lächelte großmütterlich und strich mir mitunter mit dem Handrücken über die Wange. Das duldete ich nicht bei jedem. Aber diese Dame war die Herrin über Kardinalschnitten und Erdbeertörtchen. Mehr Legitimation ist in Kinderaugen undenkbar. Für die Erkenntnis, dass ihre ausnehmend hübsche Tochter eigentlich das Geschäft führte, war ich einfach noch zu jung.

Womit wir wieder bei der Tugend wären. Und bei der grundrichtigen Erkenntnis, dass es Momente gibt im Leben eines Menschen, in denen Tugend – sagen wir mal, auch eine wohlverdiente Pause machen darf. Es hätte im Café Rosette mit all seinen süßen Verführungen auch sicher niemand z. B. … Ulrich Wickert gelesen. Sie kennen doch Wickert? Der hat 1995 das „Buch der Tugenden“ herausgebracht, von dem Ihnen Bettina Barnay erzählt hat. Eine überaus ehrbare Publikation, in der auch viel von Mäßigung die Rede ist. Im Café Rosette meiner Kindertage allerdings völlig fehl am Platz.

Wir sehen schon, dass uns die Verbindung von Kardinal und Kulinarik auf Abwege führt. (Die Wiener Küche kennt übrigens auch eine Kardinalsuppe, die sich von der Rinderbouillon nur dadurch unterscheidet, dass man ein Achtel Madeira zugießt.) Wer befreit uns aus dem Dilemma? Lutz Jäncke vielleicht? Der Zürcher Neuropsychologe hätte ja heute eigentlich auf der Bühne des Montagsforums 75.000 Jahre Menschheitsgeschichte Revue passieren lassen. Allein 40.000 Jahre davon verwendete der Mensch, um Kommunikationsformen auszuprägen. Die Sprache hat ihm letztendlich die Eroberung der Welt ermöglicht, schreibt der israelische Historiker Yuval Noah Harari. Zwei Theorien ranken sich um die Frage, warum der Mensch die Sprache ausgeprägt hat. Die eine – nennen wir sie ob ihrer Ernsthaftigkeit die à la Wickert – geht davon aus, dass der Urmensch mit Sprache vor allem nützliche Informationen austauschen konnte: Heute Morgen an der Flussbiegung eine Büffelherde gesehen, die flussabwärts zog. So nehmen Jäger Fährten auf. 

Die zweite Theorie – man könnte auch sagen, die à la Café Rosette – besagt, dass der Urmensch zu sprechen begann, weil er sich über sein Umfeld austauschen wollte. Klatsch und Tratsch also. Der Mensch ist schließlich ein Herdentier. Das Funktionieren der Gruppe ist entscheidend fürs Überleben und die Fortpflanzung. Dazu reicht es nicht, zu wissen, wo die Büffel stehen. Viel wichtiger ist, darüber im Bilde zu sein, wer wen nicht leiden kann in der Gruppe, wer wem einen Faustkeil geklaut hat oder sich unlängst paarweise bei Sonnenuntergang ins Gebüsch verdröselt hat. Die Tugenden waren da noch nicht erfunden.

In seinem jüngsten Buch entführt uns der Historiker Harari übrigens zu den Geheimagenten des Mittelalters. Unter dem Titel „Fürsten im Fadenkreuz“ schreibt er von Spionage und Sabotage zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert. Angesichts dieser lustvoll erzählten Fülle an Verrat und Intrige erhält unser Bild vom ritterlichen Ehrenkodex rasch empfindliche Risse. Die Herren der Schöpfung waren beileibe nicht zimperlich. 

Dabei war der, bis heute berühmteste Spion der Welt, eigentlich eine Frau. Die niederländische Nackttänzerin heuerte 1915 unter dem Namen H21 beim deutschen Geheimdienst an. Sie kennen doch ihren Namen, oder?

Bleiben Sie gesund und seien Sie hin und wieder … geheimnisvoll,

herzlichst, 

Ihr Thomas Matt