Frühjahrssemester 2023
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06. Mär - 22. Mai 2023

Europa - quo vadis?

Was ist Europa? Als Heinz Bertolini das Montagsforum vor 20 Jahren eröffnete, stellte sich diese Frage kaum. Die ersten Besucher betraten eine Art europäischer Wunderkammer: Sie lustwandelten in den Gärten der Geschichte, bewunderten Kunstschätze, verehrten das kulturelle Erbe. Wie prächtig unser Zuhause doch bestellt war, und so ideell unterfüttert …

Europa fußt ja auf einer Königsidee. Ausgerechnet die Erzfeinde Deutschland und Frankreich trieben sie voran. Nach zwei Weltkriegen hatte der Gedanke, dass es allemal klüger ist, miteinander Handel zu treiben als sich die Schädel einzuschlagen, leichtes Spiel. Er zog andere in seinen Bann. Europa wuchs. Es fand zueinander. Brüssel wurde Sehnsuchtspunkt und Reibebaum gleichermaßen. Europa orientierte sich zur Mitte hin.

Joseph Roth hätte das wohl missbilligt. Über das alte Österreich lässt der Autor der „Kapuzinergruft“ den Grafen Chojnicki sagen: „Das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie.“ Aber die Peripherie ist weit und Grenzen schienen obsolet. In einem vereinten Europa gemeinsamer humanistischer Werte, wer braucht da noch Grenzen?

Was ist Europa heute? Stefan Zweigs „Die Welt von gestern“ steht wieder vorne in den Bücherregalen, nahe bei den „Schlafwandlern“ von Christopher Clark. Wir haben wohl alle zu lange geschlafen, und als wir erwachten, war es frostig geworden in Europa. An der Grenze tobt ein Krieg. Gewalt und Fanatismus, die großen Gegner der europäischen Idee, haben ihre Fahnen gehisst. Schmerzhafte Jahre der Pandemie haben unsere fatalen Abhängigkeiten sichtbar gemacht. Dieser Subkontinent, der sich vor fast 600 Jahren anschickte, die ganze Welt zu erobern, steht heute knapp davor, auf den hinteren Bänken Platz zu nehmen.

Was also ist Europa morgen? Das wissen wir nicht. Aber es dämmert uns, dass Europa mehr brauchen wird als unsere Gleichgültigkeit, wenn es denn eine Zukunft haben soll.