Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,

er hat keine größeren Einkäufe geplant, das sieht man gleich. Nicht einmal einen Einkaufswagen schiebt der hochgewachsene Mann vor sich her. Er schlendert mehr zwischen den Regalen, als dass er hastig das Nötigste zusammentrüge. Jetzt hat er bei den Fischdosen Halt gemacht. Er hält eine Dose Thunfisch prüfend vor die alten Augen. Dazu nestelt er umständlich die randlose Brille aus dem Revers seines ordentlichen, schon etwas abgetragenen Sakkos. Erst jetzt wird er der jungen Verkäuferin gewahr, die ganz in der Nähe bei den Nudeln für Nachschub sorgt. „Verzeihen Sie“, spricht er sie an und fragt in der Folge allerlei über den Fisch im Allgemeinen und im Besonderen, die aktuellen Sonderangebote und die Mühe ihres Berufsstands. Ihr kommt das offenkundig gerade recht. So stehen die beiden eine ganze Weile in gebührendem Abstand und unterhalten sich. 

Zwei Euro wird ihn die Dose kosten. Aber er trägt viel mehr nach Hause. 

Das sind sie also, meine Helden. 

Bettina Barnay hatte danach gefragt. Wer ist ihr Held? So hat sie uns herausgefordert. Jetzt wissen wir zwar noch immer nicht, was sie ins Freundesbuch ihres jüngsten Enkels geschrieben hat, aber das geht uns auch gar nichts an. Ich bin selber eine Antwort schuldig. Und da stehen sie, mitten im Supermarkt: Die Verkäuferin und der ältere Herr – meine Helden. Sie haben einander Zeit geschenkt und Aufmerksamkeit. Der Inhalt des Gesprochenen ist ihnen vermutlich längst entfallen. Aber das ist im Grunde gar nicht so wichtig. Ein jeder hat den anderen gesehen und ist gesehen worden.

Sie beide zählen für mich zu jener unscheinbaren Heerschar von Helden, die in all der Aufgeregtheit unserer Tage ihren Alltag meistern, ruhig, freundlich und würdevoll. Unscheinbar waren meine Lieblingshelden immer, selbst in der Literatur. Gewiss, lustvoll segelte man als Dreikäsehoch mit Odysseus um die halbe Welt, focht an der Seite von König Artus oder entriss dem Drachen die Prinzessin. Aber als man sich dann eingestehen musste, dass es Drachen gar nicht gibt und auch Prinzessinnen sehr viel seltener vorkommen als das Märchen uns glauben macht, da traten die unscheinbaren Helden aus dem Schatten: Der Schweinehirten Eumaios zum Beispiel, der als erster in der zerlumpten Gestalt eines Bettlers seinen Herrn und König Odysseus auf Ithaka erkennt, oder Parzival, als er noch ein „tumber Tor“ war, bis hin zu Hans Falladas kleinem Mann Johannes Pinneberg. Haben Sie den letzten Satz von Falladas Roman noch im Ohr? „Es ist das alte Glück, es ist die alte Liebe […] Und dann gehen sie beide ins Haus, in dem der Murkel schläft.“ Als winziges Rädchen in der verkorksten Maschinerie der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre haben sich der arbeitslose Johannes und sein „Lämmchen“ Emma mit ihrem gemeinsamen Sohn Horst, genannt Murkel, ihre Selbstachtung bewahrt. 

Ich glaub’, so sehen Helden aus. Ganz anders als im Kino. Oft überraschend anders. Das mag man sich kaum vorstellen. Das wäre ja wie … Jesus Christus statt edel und mit onduliertem Haupthaar mit Bauchansatz und Halbglatze. Nein, keine Angst, ich bin nicht durchgeknallt. Der Paderborner Religionswissenschaftler und Alttestamentler Bernhard Lang macht uns in einem seiner bemerkenswertesten Bücher mit ihm bekannt, diesem so ganz anderen Christus. Das Buch trägt den Titel „Jesus der Hund“. Das klingt verächtlich. Aber Lang lässt in keiner Zeile den nötigen Respekt vermissen. Er stellt die Figur des Jesus von Nazareth lediglich in das philosophische zeitliche Umfeld und ordnet ihn in die Reihe der Kyniker ein, der Wanderprediger mit Bettelsack und zerschlissenem Philosophenmantel. Daher der Titel. Die Bezeichnung Kyniker leitet sich vom griechischen Wort kyon ab. Es bedeutet „Hund“. Diesen Spitznamen geben die Athener dem Antisthenes, der die kynische Philosophie begründet hat. Ihr berühmtester Vertreter Diogenes – Sie wissen schon, der im Fass – soll eines Morgens mitten auf der Agora gefrühstückt haben. Die Athener beschimpften ihn als Hund. Er aber antwortete augenzwinkernd: „Die Hunde seid Ihr, denn Ihr umlagert meinen Tisch!“ 

Was um alles in der Welt haben nun Diogenes und Jesus gemeinsam? Davon handelt diese Studie. Bernhard Lang führt den staunenden Leser quasi von den Raben, die den Propheten Elija ernähren, über die Vögel in kynischen Gleichnissen bis zum berühmten Gleichnis von den Vögeln im Himmel: Sie säen nicht, sie ernten nicht… 

Auf 240 Seiten vernetzt Lang das Gedankengut der alten Welt, schenkt uns beeindruckende Einblicke in den ältesten philosophischen Text in hebräischer Sprache, das Buch Kohelet, er lässt uns miterleben, wie dieser Jesus gesellschaftliche Normen hinter sich lässt, und schält aus all den Bezügen und Traditionen ein neues Bild heraus: Jesus den Philosophen eben. Er ist es wirklich wert, seine Bekanntschaft zu machen.

PS.: Die kynische Philosophie hat zu allen Zeiten ihre Spuren hinterlassen. Selbst ein berühmter italienischer Dichter hat sich für Diogenes und Sokrates einen Ort am Rande der Hölle ausgedacht, wo es nicht ganz so wehtut. Er hat übrigens heuer Todestag, dieser Dichter, einen runden. Sie wissen sicher schon, von wem die Rede ist.

Bleiben Sie gesund und neugierig,

herzlichst,

Ihr Thomas Matt

Literatur: Bernhard Lang, Jesus der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers, (Verlag C. H. Beck) München 2010, 240 S.