Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
ganz früh am Tag, wenn mir ein kalter Wind noch einreden will, dass der Winter doch nicht vorüber ist, stehl ich mich in den nahen Auwald. Die Dämmerung schält behutsam einzelne Stämme aus dem nächtlichen Schwarz. Tastend suchen meine Füße den Weg über Wurzeln und durchs Gehölz. Ein schmaler Pfad am Ufer der Ach lädt ein, zwischen den Bäumen umherzustreifen. Man ist im Nu der Welt entflohen, die dort draußen gerade mit Hupen und Rufen und Motorenlärm erwacht, und verwundert merke ich, dass sich etwas verändert hat. Meine simple Einteilung der Natur in Pflanzen, die man destillieren oder rauchen kann, und eben die anderen, hat einer kindlichen Scheu Platz gemacht. Das alles erscheint im Morgenlicht so … kostbar. Mit so viel Phantasie ersonnen.
„Ein tiefer, träger Fluss, still und glatt wie geschmolzenes Glas“, würde dazu der Brite Archibald Stansfeld Belaney anmerken, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Trapper im Kanu und zu Fuß durch Kanadas Wildnis zog. Er nannte sich „Grey Owl“. Mit seiner Erzählung „Pfade in der Wildnis“, die 2019 in der Anderen Bibliothek erschienen ist, hat er ein frühes Stück ökologischer Literatur hinterlassen. Die Rauheit und Gewalt der Wälder, Flüsse und Seen und ihrer tierischen Bewohner waren ihm zutiefst vertraut. Da schrieb ein Mann, dessen kindlicher Wunsch, Indianer zu werden, so groß war, dass er tatsächlich einer geworden war. Er erzählt von den Wundern eines Kosmos, der des Menschen nicht bedarf und doch von der Zivilisation bedroht ist.
Wie komm ich drauf? Ist es die pfadfinderische Vergangenheit, die sich da zu Wort meldet? Oder am Ende heimlich Winnetou im TV geschaut, zu schwer gegessen und dann unruhig geträumt? Oder bringt einfach der alljährliche Auftakt der Grillsaison das Tier im Manne zum Vorschein? Mit hungrigen Blicken kann man sie jetzt durch die Baumärkte streifen sehen, die Herren der Schöpfung, die alsbald in den Vorgärten der Städte wieder große Feuer entfachen werden, um nicht länger rohes Fleisch von den Knochen nagen zu müssen.
Aber das alles greift zu kurz. Es hat mehr mit Bettina Barnays Brief zu tun. Weil mitunter nur die Natur in ihrer großen nimmermüden Erzählung vom Leben uns über Verluste zu trösten vermag und weil ich, als ich ihre literarische Frage las, tatsächlich im selben Augenblick das Buch „Walden“ von Henry David Thurau in Händen hielt. Ist das nicht sonderbar?
Sie haben später einen Asteroiden nach ihm benannt und auf dem Planeten Merkur den gewaltigen Einschlagkrater eines solchen Himmelsgeschosses. Es hat rund 100 Jahre gedauert, bis sich Henry David Thoreau am Firmament verewigt hat, in den Montagsbrief von Bettina Barnay fand er vergangene Woche Eingang als Antwort auf ihr Rätsel: Wer war der Mann, den Ralph Waldo Emerson seinen Freund nannte und der sich eines Tages am einsamen Waldensee in Massachusetts ein Blockhaus zimmerte, um darin zwei Jahre lang abgeschieden zu leben? Der zum Schluss kam, dass sechs Wochen Arbeit in Jahr genügten um seine bescheidenen Bedürfnisse zu stillen? Dessen widerständige Gedanken sich später bei Mahatma Gandhi wiederfinden? Er hieß Henry David Thoreau. Und Asteroid, Krater und Rätsel treffen ihn vermutlich ziemlich gut.
- Ein unangenehmer Geselle. „Wenn er mit anderen Menschen zusammen war, widersprach er ihnen fortlaufend“, schreibt Emerson, in dessen Haus er eine Zeit lang gewohnt hat.
- Ein Nonkonformist: Pflegte wenig gesellschaftlichen Umgang, das Gespräch mit „einem guten Indianer“ war ihm angenehmer als die vermeintlich gute Gesellschaft.
- Kein Drückeberger: Seine erste Lehreranstellung schmeißt er hin, weil die Schulleitung von ihm verlangt, die Kinder zu züchtigen. Als Gegenentwurf gründet er mit seinem Bruder eine Privatschule.
- Ein Unbeugsamer: Wegen Steuerschulden geht er ins Gefängnis. Er hätte schon zahlen können. Aber die Verwendung der Steuergelder war ihm zuwider. Also ließ er sich einsperren.
Er schreibt in seinem berühmten Buch „Über das Leben in den Wäldern“: „Plötzlich sah ich mich als Nachbarn der Vögel; nicht, weil ich einen gefangen setzte, sondern weil ich mir meinen Käfig in ihrer Nähe gebaut hatte.“ Am 4. Juli 1845 bezieht er sein Blockhaus, am amerikanischen Unabhängigkeitstag. Vier Jahre späte veröffentlicht er seinen Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“. Nein, das ist jetzt keine verklausulierte Kumpanei mit den Corona-Leugnern. Thoreau schreibt das Buch gegen den Kadavergehorsam. Er pocht auf das eigene Gewissen, auf den moralischen Kompass in uns. Deshalb war er ein so hartnäckiger Gegner der Sklaverei, er konnte gar nicht anders.
Aber Schluss mit den Gedanken! In der Zeitung, im Radio, im Internet fiebern sie jetzt alle auf den 19. Mai hin. Dann fängt das Leben wieder an! Eine Bekannte hat sich jetzt doch noch zur Impfung entschlossen, damit sie ungehindert an der Wiederauferstehung teilhaben kann. Als stünde eine Riesenparty bevor. Sollte man da nicht ganz andere Dinge lesen als Thoreau und Grey Owl?
Also: „New York, New York“ auf den Plattenteller, einen Manhattan ins Glas und den großen Gatsby zur Hand, der wusste schließlich, wie man eine Party schmeißt! Oder lieber etwas nobler? Dann schauen wir Mrs. Dalloway über die Schultern, einer der glänzendsten Gastgeberinnen Londons. Sie bereitet an diesem Tag im Jahr 1923 eine Abendgesellschaft vor. (Sie wissen bestimmt, wer diese Figur zu Papier gebracht hat.)
Das wär doch was, einer Expertin zusehen! Aber dann kommt man Seite für Seite dahinter, dass Clarissa Dalloway das alles eigentlich nur tut, weil die Umgebung es von ihr erwartet.
Sie entspricht der Konvention, mehr nicht.
Dann vielleicht doch lieber Thoreau? Mit weit weniger Luxus, dafür aber ungebunden, … frei?
Bleiben Sie neugierig und vor allem: Bleiben Sie gesund!
Herzlichst,
Ihr Thomas Matt