Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums, 

„Sehen, spüren und begreifen dürfen“? Na, da könnte man vor Neid erblassen ob dieses analogen Hochfestes! Ich seh sie richtig vor mir, Bettina Barnay und Renate Erhard, wie sie durch Ilse Konrads Atelier streifen, staunend, vielleicht ein wenig scheu noch – man ist ja solcher Unmittelbarkeit regelrecht entwöhnt. Lassen sich gehorsam von der Künstlerin über deren Landkarte führen, immer den Nadeln entlang, die besuchte Orte markieren, und werfen endlich den Kopf in den Nacken, um auch die Ausstellungsfläche über ihren Häuptern zu entdecken.

Ein Augenblick, wie er sich jenseits der Schweizer Grenze alle Nase lang aufs Köstlichste wiederholt. Dann nämlich, wenn das bunte Gemenge aus fernöstlichen Touristen, Schulklassen und Wandervögeln in die St. Galler Stiftsbibliothek quillt und nach vor drängelt, denn da ist der Abrogans und dort liegen die Tuotilo-Tafeln und dahinter im gläsernen Kasten, da schlummert die Mumie wie ein reichlich in die Jahre gekommenes Schneewittchen. Und verlässlich bleibt jedes Mal einer zurück, derjenige, der – vielleicht versehentlich – die Augen hob von den schon im Internet angekündigten Kostbarkeiten und der ganz unglaublichen Decke gewahr wird. 

Steht dann da wie ein Fleisch gewordenes Verkehrshindernis, zur Säule erstarrt, inmitten der „In-15-Minuten-fährt-der-Bus-Gruppen“, dehnt den Kopf in den Nacken und staunt. Später dann wird er zuhause nachlesen, dass er in den Deckengemälden die vier ersten ökumenischen Konzilien gesehen hat (Nizäa 325, Konstantinopel 381, Ephesus 431, Chalcedon 451). Und wenn er ein rechter Bücherwurm ist, wird er blätternd erfahren, dass es in diesen Versammlungen um nichts weniger ging als um die göttliche und menschliche Natur des Jesus Christus, ums Eingemachte der christlichen Religion gewissermaßen. Vielleicht ist er ja noch kirchlich sozialisiert, dann murmelt er wie zur Probe den Anfang des Glaubensbekenntnisses, das in diesem Versammlungen vor 1600 Jahren Gestalt annahm. Und – mit einem äußersten vielleicht versehen – wird er sich fragen, weshalb ein gewisser Josef Wannenmacher in der Hochzeit der Aufklärung ausgerechnet diese Motive gemalt hat.

Ist er aber nicht ganz so wissbegierig, werden sich alsbald andere Bilder jüngerer Ereignisse vor die Bibliothekserinnerung schieben. Übrig bleibt ein Schemen, das noch am deutlichsten die Filzpantoffeln erkennen lässt, die er wie all die anderen Besucher belustigt über den Schuhen trug. Werden in Ilse Konrads Atelier Filzpantoffeln auch ausgegeben? Ich muss bei Gelegenheit nachfragen. 

Der Gedanke allein freilich ruft mir in Erinnerung, dass man auch noch aus ganz anderem Zweck die Augen erheben kann und das treibt mir augenblicklich die Schamröte ins Gesicht. Wenn jetzt ein Lächeln um ihre Lippen spielt, dann haben Sie Thomas Hürlimans Roman „Fräulein Stark“ gelesen und den Neffen des Stiftsbibliothekar – „nepos praefecti“ – vor Augen, wie er den Besucherinnen kniend Überzieh-Pantoffeln reicht, auf dass sie Boden-schonend ins Reich der Bücher schlurfen. Dass er dabei die Blicke wandern lässt, führt ihn und die Leserinnen und Leser Seite um Seite auf Abwege, die der Zuger Schriftsteller Hürlimann vermutlich nur deshalb so köstlich in Szene setzt, weil selber die Klosterschule in Einsiedeln besucht hat.

Aber lösen wir uns von diesem barocken Prachtstück in Rufweite, das zwar schon wieder offenhält, aber den Besuchern jenseits der Grenze noch eine (kleine) Weile verwehrt bleibt. Macht nichts, denkt der gelernte Vorarlberger mit einem gewissen Stolz, wir sind ja auch so drüben fest verankert. Schließlich verdanken wir die St. Galler Stiftsbibliothek so wie auch das Rokoko-Juwel Birnau am anderen Ende des Bodensees einem Vorarlberger Baumeister, dessen Namen Sie sicher kennen. Er kam in Bezau zur Welt. Wurde in eine Baumeisterfamilie hinein geboren und hat dann später im süddeutschen Raum die vielleicht bemerkenswertesten Bauten ersonnen und umgesetzt. 

Aber was erzähl ich Ihnen! Im Auer Kurathaus nimmt gerade das längste fällige Museum der Barockbaumeister Gestalt an und wird voraussichtlich im Herbst eröffnen. Wäre das nicht ein Ausflug, eine regelrechte Landpartie? Mit kleiner Wanderung und Verweilen in einem schattigen Wirtshausgarten? Ach, es soll Sommer werden!

Bleiben Sie neugierig und gesund!

Herzlichst, 

Ihr Thomas Matt