Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,

das Leben eines Journalisten gelangt eines Tages an den Punkt, an dem ihn zum ersten Mal ein Hauch von Allmacht anweht. Dies geschieht meist früh. Deshalb hat dieses Gefühl auch leichtes Spiel mit dem kindlichen Gemüt. 1983, also drei Jahre, bevor Bettina in penibler Kleinarbeit eine ganze Diplomarbeit lang das Wort „Rhytmus“ liebevoll mit einem zweiten „h“ versah, war es bei mir so weit. Und das kam so.

Es war ein schöner Tag. Ich hatte in der Zeitungsredaktion erfolgreich mit einer Bildunterschrift zum Wasserstand des Bodensees debütiert, nichts schien mehr unmöglich, die Chefredaktion zum Greifen nah. Das übte schon deshalb großen Reiz aus, weil der Chefredakteur über eine elektrische Schreibmaschine mit Kugelkopf verfügte. Ich hatte aus dem Fundus des Hauses ein mechanisches Ungetüm der Marke Adler erhalten. Diese Schreibmaschine war ockerfarben, wog gut und gerne ihre zehn Kilo und trug auf der linken Seite das Abziehbild einer Tänzerin zur Schau. Da das Bild nur mehr schemenhaft vorhanden war wie ein flüchtiger Schatten, blieb die Frage offen, ob die Dame überhaupt und wenn ja, wie raffiniert sie wohl bekleidet war. Ihre Körperhaltung ließ auf akrobatische Qualitäten schließen, der Rest blieb ein erster Appell an meine Phantasie. (Ich schreibe das Wort mit „Ph“, obwohl der Duden das „F“ ch zuließe, aber es geschieht dies gewissermaßen als Referenz an Bettinas schon früh entwickeltes Sprachgefühl).

Wo waren wir? Wir blicken in die Redaktion, richtig. Ich komme eben herein. Trage einen Trenchcoat. Zerknittert, versteht sich. Nuschle ein unbestimmtes „Guten Morgen“ in die Runde und verschwinde in der Kaffeeküche. Wie ein altes Schlachtross kehre ich wenig später mit einer leicht angebrochenen Tasse voller dampfend heißem Kaffee zurück und nestle auf dem Weg zu meinem Schreibtisch eine Zigarette aus dem Sakko. Es existieren Fotos aus dieser Zeit. Sie zeigen einen Gymnasiasten, der Journalist spielt im Schultheater. Aber ich sah das anders. Ich war restlos überzeugt von mir, nur das zählt. 

Sehen Sie’s? Wie ich den Bogen Layoutpapier aus der Schublade ziehe und in die Maschine einspanne? Sehen Sie die Zigarette im Mundwinkel? Den eleganten Schwung, mit dem die Finger der linken Hand den Wagen der Schreibmaschine ganz nach rechts befördern? Können Sie es sehen? Sieht das nicht klasse aus? Wäre das nicht der rechte Moment, um Leroy Andersons herrliches Musikstück „the typewriter“ einzuspielen? (Bettina hatte danach gefragt, Sie erinnern sich.) Und da sitz ich nun also mit übereinander geschlagenen Beinen am Puls der Zeit und hebe die Finger wie ein Dirigent vor dem ersten Einsatz, lasse sie niedersausen – einzeln nach dem „Adler-such-System“ – und es geschieht … nichts. Die Typenhebel hämmern wie wild aufs Papier, aber sie hinterlassen nicht die geringste Spur. Dabei harrt eine Jahreshauptversammlung ihrer Verewigung. Aber es geschieht … nichts. Ich springe auf. Verlasse die Wallstatt. Rufe im Entschwinden – bestimmt zu einem wichtigen Termin – der Sekretärin noch zu, man möge das Schreibgerät schleunigst instand setzen. Ich sage es nicht, aber meine Stimme verrät: Viel hängt davon ab, eigentlich alles.

Eine Stunde später steh’ ich dann abermals hier. Die Sekretärin hat mir in einfachen deutschen Sätzen (Subjekt und Prädikat) soeben erklärt, dass die Schreibmaschinentechniker unverrichteter Dinge wieder abgezogen sind. Das Teil war gar nicht kaputt. Ich hatte lediglich aus Versehen jenen kleinen Kipphebel betätigt, der das Farbband ruhend stellt. Die Sätze hallen in mir nach. Ich kann sie noch nicht richtig einordnen. Die Techniker hätten 50 S-c-h-i-l-l-i-n-g verlangt für ihren Einsatz. Die Sekretärin dehnt die Wörter in die Länge und sagt sie in einer Lautstärke, dass das ganze Großraumbüro belustigt zuhört.

 Würde man jetzt „the typewriter“ unterlegen, ich hätte das passende Gesicht dazu: Ich sähe aus wie Jerry Lewis, der die Melodie im gleichnamigen Sketch berühmt gemacht hat.

So ist das mit der Allmacht. Sie ist „a Vogerl“, unsteten Charakters. Mit etwas Glück wird sie früh erschüttert. Dann gerät man nie in Verlegenheit, den großen Zampano geben zu wollen. Stattdessen geht man scheu und respektvoll mit den Gelsominas dieser Welt um, möchte auch nicht angekündigt werden – schon gar nicht mit Trommelwirbel – und würde niemandem auf die nackten Beine schlagen, um des Effektes willen. 

Mit „La Strada“ schuf Fellini wohl einen der anrührendsten Filme, die je gedreht wurden. Allein die Musik… Für die Erinnerung danke ich Bettina sehr! Und jetzt stünden da viele Wege offen, die aus diesem Brief herausführten und ihn zu einem guten Ende brächten. Bettina hat sie vorgezeichnet. Ich könnte mich von Anthony Quinn als Zampano über Anthony Quinn als Papst Kyrill in den Schuhen des Fischers bis zu Anthony Quinn als Alexis Sorbas empor hangeln und dabei anmerken, dass die Sirtaki-Szene vorzüglich in pandemische Zeiten passt. Oder ich gäbe Leroy Anderson noch einmal die Ehre, schließlich hat er die erste Instrumentalaufnahme komponiert, die sich eine Million Mal verkauft hat. Nein, das war nicht „the typewriter“, es war „blue tango“. Aber dies ist ein ziemlich domestizierter Tango, einer für höhere Töchter, die gelangweilt ohne den opulenten Klangteppich der Streicher ihre schlanken Fesseln nicht einmal anzuspannen pflegen. Keine Spur jener verruchten Hitze, die noch heute in den Straßen von San Telmo in Buenos Aires brütet und sie zur Bühne macht für kopfloses Begehren, Trunkenheit und all die anderen verwandten Verrücktheiten der menschlichen Existenz.

„Por una cabeza“ wäre so ein Tango, wie ihn Carlos Gardel 1935 der Welt geschenkt hat. Knapp 60 Jahre später tanzte Al Pacino dazu im US-amerikanischen Filmdrama „Der Duft der Frauen“ als blinder Gentleman mit einer bezaubernden jungen Frau seinem einzigen Oscar entgegen. Por una cabeza – „für einen Kopf“ – ist das nicht ein seltsamer Titel? Wissen Sie, worum es sich dabei handelt? Blättern Sie’s nach. Sie werden staunen…

Damit soll es für heute genug sein. Ich kehre wieder in mein Homeoffice zurück, dabei fällt mein Blick auf das Buch „Heimarbeit“, das Barbara Motter und Barbara Grabherr-Schneider 2019 geschrieben haben. Im Stadtmuseum Dornbirn verkaufen sie auch heute noch die gesammelten Objekte und Erinnerungen an das „Wirtschaftswunder am Küchentisch“. Ob eine Neuauflage irgendwann den Bildern von Schere und Stickrahmen wohl die Fotos von Laptop und Handy aus den 2020er Jahren beifügt? 

Bleiben Sie uns gewogen, neugierig und vor allem gesund!

Herzlichst,

Ihr Thomas Matt