Montagsimpulse
Unsere Gedanken während der Pandemie
Texte
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
Heute würden wir ja eigentlich im Kulturhaus sitzen und von Armin Thurnher erfahren, woher er weiß was stimmt. Uneigentlich aber gehen wir der Beschäftigung nach, der wir halt auch an anderen Vormittagen nachgehen. Wenn aus den hinteren Windungen unseres Kopfhauses (so nennen zwei meiner Enkel das Gehirn) der Gedanke an die Zukunft des Montagsforums auftaucht, schieben wir ihn beiseite. Es wird schon werden.
Glauben Sie mir, wir haben uns durchaus überlegt, das MoFo digital durch den Herbst zu steuern. Die Kosten dafür stünden aber in keinem Verhältnis zum Nutzen. Und: sind wir doch ehrlich, wir waren alle schon nicht glücklich mit der Idee, mit Maske an unseren Platz zu huschen, dort den Vortrag anzuhören und danach mit Maske wieder das Kulturhaus zu verlassen. Man empfiehlt uns, auf Zusammenkünfte zu verzichten und weil wir klug gewesen wären (und sind), wären wir natürlich nicht in größeren Gruppen Mittagessen gegangen, um über das eben Gehörte zu diskutieren.
Wäre…hätte….das Leben kennt keinen Konjunktiv. Wir stellen uns den Tatsachen und machen das Beste draus. Seit Donnerstagabend bekommen wir viele verständnisvolle und wohltuende Rückmeldungen von unseren Hörerinnen und Hörern. Über Ihre Unterstützung: finanzieller und emotionaler Natur sind wir glücklich und sehr dankbar.
„Wege aus der Angst“ so hat der Hirnforscher Gerald Hüther sein jüngstes Buch genannt, ich habe es begonnen zu lesen und dann wieder weggelegt. Ich möchte derzeit nicht über Angst lesen, sondern ausschließlich Bücher zu mir nehmen, die mich glücklich machen.
„Wo die wilden Frauen wohnen“ war und ist so eines. Die Journalistin und Autorin Anne Siegel portraitiert darin 10 äußerst interessante Isländische Frauen, von der Musikerin Björk bis zur Geothermalpionierin Hrefna Kristmannsdottir.
Abgesehen davon, dass die Geschichten dieser Frauen spannend sind (auch für Männer!), hat man bereits nach dem ersten Kapitel das Gefühl, man würde doch vielleicht ganz gerne in Island leben. Schon die Art und Weise der dortigen Aufarbeitung des Bankenskandals lässt – zumindest mich – ein bisschen neidisch werden. Da wurde schnell und gründlich aufgeräumt… Und von Corona haben sie sich nach dem Ischgl Peak auch wieder gut erholt.
Na gut, vielleicht ist es trotzdem keine so ausgezeichnete Idee dort zu wohnen, aber Island bereisen, das wäre eine! Wir werden nicht die Zuversicht verlieren und die Sicherheit, dass wir bald wieder dürfen was derzeit nicht gut oder gar nicht möglich ist: reisen, ins Montagsforum und vieles mehr.
Bis dahin also wieder Buchtipps, Gedanken frei Haus und wenn Sie möchten auch Rätsel. Möchten Sie? Da warte ich auf Ihre Reaktionen bevor ich Sie ungebeten fordere.
Ich harre Ihrer Antwort und grüße Sie herzlich
Bettina Barnay
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
herrje, das waren Zeiten, als man noch Briefe schrieb! Sie erinnern sich? Draußen hatte über Nacht der Herbst die Zügel übernommen, ein kalter Wind ordnete das fallende Laub immer wieder von neuem zu krausen Figuren und schob Wolkengemälde über den Himmel. An solchen Tagen wuchsen den Gedanken Flügel, man entsann sich lieber Menschen, die man den Sommer über sträflich vernachlässig hatte. In der obersten Schreibtischschublade warteten geduldig Bögen cremefarbenen Papiers, und eh man sich’s versah, saß man darüber und zögerlich glitt der Stift über den noch leeren Brief.
Es dauerte eine ganze Weile. Man schrieb mit Bedacht. Anders als heute stand eine „Löschtaste“ ja nicht zur Verfügung, und Ausgebessertes blieb immer sichtbar. Der „Tintentod“ hinterließ hässliche Flecken, die für immer daran erinnerten, dass hierorts ein Buchstabe sein Leben ließ. Wer will das schon? Also skizzierten die einen mit Bleistift den Text erst auf einen Block, strichen aus, formulierten neu, sudelten nach Herzenslust, ehe sie die Sätze übertrugen. Andere ließen sich Zeit. Formulierten druckreif aus dem Gedächtnis. Das können bis heute nur wenige.
Im Montagsforum haben wir solche Sprachwunder schon hören dürfen. Ich hab Josef Imbach noch im Ohr, wie er mit sonorer Stimme wortgewaltig biblische Szenen im Saal erstehen ließ. Oder Thea Dorn, die uns im Mai 2019 auf der Suche nach Heimat mit romantischen Gedichten von Eichendorff und Novalis entwaffnete. Ausgerechnet uns, die Bürgerinnen und Bürger des 21. Jahrhunderts, die wir in unserer ganzen Auf- und Abgeklärtheit der Romantik doch spöttisch den Rücken kehren…
Aber zum einen hat der Prozess der Aufklärung offenbar noch ganz schön viel Luft nach oben, wenn der Mensch so simple Dinge wie Händewaschen, Maske tragen und Abstand halten einfach nicht begreifen will. Zum anderen werden so innige, persönliche Texte wie Gedichte und Briefe in Zeiten zwangsverordneter Distanz wichtiger denn je.
Julian Nida-Rümelin, der heute unter anderen Umständen zu Ihnen spräche, entfaltete vor Ihren Augen eine ganze Philosophie humaner Bildung. Nun, er wird es mit Sicherheit noch tun, wenn die Pandemie dereinst abgeklungen ist. Bis dahin kehren wir zurück in unsere Kammern und Wohnzimmer, Wintergärten und Salons und lesen aus alten Briefen hinreißende, herzerwärmende Worte. Auch ganz verrückte, wie sie etwa Cyrano de Bergerac (1619 bis 1655) seiner Angebeteten zu Füßen legte:
„Also kann ich annehmen, Madame, dass ich anfing zu sterben, als ich begann, Sie zu lieben, weil der Tod eine Trennung von Geist und Körper ist und weil ich von dem Augenblick, als ich Sie sah, meinen Verstand verlor.“
Vermutlich wissen Sie, dass Edmond Rostand aus der Provence den Helden mit Degen und langer Nase 1897 auf die Bühne brachte und damit eine ungemein begehrte Rolle schuf. Gerard Depardieu hat den dichtenden Raufbold im Kino verkörpert. Cyrano dient im Theater und auf der Leinwand bei den „Gascogner Kadetten“. Diese Kompanie gab es wirklich und sie verdankt ihren literarischen Ruhm noch einem ganz anderen berühmten Roman, der gleich drei Helden im Titel trägt. Wissen Sie, wie er heißt und wer ihn geschrieben hat?
Bis dahin verbleibe ich mit den herzlichsten Grüßen
Ihr Thomas Matt
(der sich angesichts der Witterung herzerwärmender Literatur in die Arme warf)
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
Zu der „herzerwärmenden Literatur“, der sich Thomas Matt „in die Arme warf“ gehört offensichtlich auch Alexandre Dumas´ „Die drei Musketiere“. Das ist zumindest die Antwort auf die Frage, die er in seinem Schreiben vom vergangenen Montag gestellt hat. Ein Schreiben, das mich gewärmt hat wie eine Cashmere Decke. Mit meiner Begeisterung war ich nicht alleine, danke an dieser Stelle, für die vielen positiven Rückmeldungen.
Alexandre Dumas der Ältere hat das Buch in Zusammenarbeit mit Auguste Maquet geschrieben. Es ist der erste Teil einer Trilogie über d´Artagnan und seine drei Freunde Athos, Porthos und Aramis.
„Einer für alle – alle für einen“, dieses Motto der Treue hat man sich aus dem Roman wohl am besten gemerkt. Zusammenhalt braucht es auch jetzt wieder mehr denn je.
Einer unserer Hörer hat, in seiner Reaktion auf den MONTAGS I M P U L S geschrieben, dass das Wetter derzeit Wünsche offenlässt. Aber mit meteorologischen Kapriolen ist es wie mit so vielem anderen: das Wetter können wir nicht ändern, wohl aber unsere Einstellung dazu. Also wenn´s wieder schüttet nehme man sich ein Beispiel am englischen Landadel und trage Naturkautschuk- oder thermoplastisches Kunstoffschuhwerk mit Stil und Würde. Jede und jeder von uns hat doch wohl seine Standard-Runde, die abzuspulen wir auch imstande sind, wenn zu größeren Unternehmungen Zeit, Lust oder Sonne fehlt. Danach können wir guten Gewissens dem lockenden Ruf des Sofas Folge leisten, für eine Runde Extreme Couching. Nein, auf dem Sofa liegen gilt nicht einmal unter dieser Bezeichnung als Sport, aber es ist eine, an regnerischen Tagen, ungemein tröstliche Freizeitbeschäftigung. Sonst eigentlich auch, aber dann mit nicht so gutem Gewissen.
Der Vorteil von Extreme Couching ist ja auch, dass keine besondere Sportbekleidung vonnöten ist, alles was man dazu braucht ist ein Buch. Hier ein Vorschlag:
„Thomas Quasthoff – Die Stimme“, so heißt die Autobiographie eines der wohl beeindruckendsten Sängers nicht nur der Gegenwart. Im Jahr 2012 hat er sich vom klassischen Gesang verabschiedet. Sein Bruder war gestorben, Quasthoffs wichtigste Bezugsperson. Quasthoff hat sich danach – peu-à-peu – neuen Formen der künstlerischen Tätigkeit zugewandt: man kann ihn in Lesungen erleben, als hinreißenden Interpreten von Jazzstandards, sowie als Pädagoge in Meisterkursen und an der Hochschule für Musik «Hanns Eisler» in Berlin. Quasthoff war für mich, in meiner ORF Zeit ein Ausnahmekünstler. Er hat sich unseren Aufnahmeteams gegenüber immer höchst entgegenkommend und freundlich verhalten und die Liederabende bei der Schubertiade, die ich mit ihm erleben durfte waren singulär und sind unvergesslich. Nie habe ich eine traurigere „Winterreise“ gehört als seine.
Thomas Quasthoffs Autobiographie lese ich immer wieder und danach und dazwischen höre ich sein Jazz Album „Watch What Happens“ und da, mindestens zwei Mal hintereinander: „Smile“.
Und hier das Rätsel: wer hat die Melodie zu „Smile“ geschrieben und in welchem Film kam das Lied zum ersten Mal zum Einsatz?
„You’ll find that life is still worthwhile, if you just smile“
So heißt es in diesem Lied.
In diesem Sinne: lächelnde und herzliche Grüße
Bettina Barnay
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
Das war so ein richtig verhatschter Montagmorgen. Erst mit dem falschen Fuß aufgestanden, dann nur so durch die Stunden gestolpert, bis… ja, da muss ich jetzt erst einmal Bettina Barnay Rosen streuen: Bis sie mir nämlich vergangene Woche „Smile“ auf den virtuellen Plattenteller gelegt hat. Manchmal ist Internet ja ein Segen. Nach wenigen Klicks erhob Thomas Quasthoff seine Stimme. Da zog ich leise die Tür hinter mir ins Schloss und nach 4:37 Minuten betrat ich diese Woche noch einmal: Runderneuert, aufgeräumt. Was Musik im rechten Augenblick so alles vermag!
Die Antwort auf Bettinas Frage hat vermutlich Kopfzerbrechen verursacht und mündete jedenfalls bei mir in bassem Erstaunen. Das Lied hat nämlich Charlie Chaplin 1936 geschrieben. Damit beschloss er seinen Film „Modern times“. Chaplin schlüpft darin in die Rolle des Landstreichers, der in der Fließbandarbeit, im unbarmherzigen Takt der großen Maschinen förmlich zerrieben wird. Aber er wäre nicht Charly Chaplin, wenn er aus dem tragikomischen Kampf mit der Stechuhr nicht als Sieger hervorginge.
Das tut er freilich weder als strahlender Held noch als „Arbeiter des Monats“. Stattdessen kauert er am Ende seines Films irgendwo im Nirgendwo zusammen mit einem Waisenmädchen am Straßenrand. Beide sehen erschöpft aus. Sie ist verzweifelt. Heulend stützt sie den Kopf in die Hände. Angesichts zahlloser Fehlschläge im Leben fragt sie nach dem Sinn von all dem. Und indirekt: Wäre es nicht besser, einfach liegen zu bleiben? Für immer?
Chaplin bindet sich indes pfeifend die löchrigen Schuhe. Als er ihre Verzweiflung bemerkt, nimmt er sie in die Arme und hält dagegen: „Kopf hoch! Wir schaffen das schon!“ Mit kräftigen Gesten flößt er dem heulenden Bündel Wort für Wort wieder Mut ein. Und weil dies ein Stummfilm ist, mag sich jeder selber vorstellen, was einen in so einer ausweglosen Situation aufgerichtet hätte. Chaplin hat Erfolg. Sie gehen weiter, schwierigen Zeiten entgegen. Aber lächelnd. Dazu erklingt die Musik: „Smile!“ Erst 1954 haben zwei Briten einen Text dazu geschrieben: Smile, when your heart is aching („Lächle, obwohl dein Herz schmerzt“). Darin heißt es schlussendlich: „Du wirst herausfinden, dass das Leben lebenswert ist. Wenn Du einfach nur lächelst!“ Was könnte man Menschen in schweren Zeiten wohl Schöneres mit auf den Weg geben?
Einer, der die Sorgen der Menschen schon sein ganzes Leben lang teilt und allen Widerständen zum Trotz Wege sucht, ihren Alltag leichter zu machen, ist Reimer Gronemeyer. Sie kennen ihn alle. Er hat schon zweimal bei uns vorgetragen. Der deutsche Theologe und Soziologe ist heute 81 Jahre alt. Aber das ficht ihn nicht an. Bis die Corona-Pandemie die Welt im Frühjahr praktisch lahmlegte, hat er im Auftrag der deutschen Bundesregierung in Äthiopien gearbeitet, wo sich Teile der billigproduzierenden Textilindustrie hin verlagert hat. Er sollte dort menschenwürdige Arbeitsbedingungen schaffen. Dann war über Nacht Schluss. Corona machte Reisen unmöglich. Und Gronemeyer wandte sich anderen Aufgaben zu: Der Gießener Soziologe untersucht seit März 2020 die Folgen der Isolation in Pflegeheimen. Denn mit dem Lockdown kam die Einsamkeit.
Gronemeyer war zuletzt 2019 in Vorarlberg zu Gast. Er pflegt u. a. eine enge Freundschaft mit Kaspanaze Simma. 2019 hat er zudem sein jüngstes Buch veröffentlicht mit dem Titel „Tugend. Über das, was uns Halt gibt“.
Jetzt erscheint uns der Begriff Tugend schon reichlich verstaubt, oder? Aber Gronemeyer fügt den altbekannten Tugenden noch neue hinzu, darunter die Sanftmut und die Gelassenheit. Jetzt werden Sie zurecht fragen: Sollen wir in Zeiten, in denen uns ständig mehr untersagt wird, auch noch über Tugenden nachdenken? Na ja, andererseits hätten wir ja Zeit dafür. So uralte Tugenden wie die Mäßigung zum Beispiel erinnerten uns vielleicht daran, dass Unmäßigkeit uns auch dorthin geführt hat, wo wir heute stehen…
Übrigens: Bringen Sie die Kardinalstugenden überhaupt noch auf Anhieb zusammen?
Mit dieser Frage ganz im Sinne Reimer Gronemeyers wünsche ich Ihnen eine erbauliche Woche, bleiben Sie gesund und tatenfroh! Und gelassen, das vor allem,
herzlichst, Ihr
Thomas Matt
Buchtipp: Reimer Gronemeyer, „Tugend. Über das, was uns Halt gibt“, Edition Körber, 2019, 19.60 Euro
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
meine Antwort auf Thomas Matts MONTAGS IM P U L S ist ein schlichtes aber dafür ehrliches NEIN. Die Kardinaltugenden habe ich nicht auf Anhieb zusammengebracht. Und zwar echt nicht, auch nicht auf…. Was ist das Gegenteil von „Anhieb“ und warum heißt es überhaupt „Anhieb“? Weil das Wort von „anheben“ kommt. In Johann Sebastian Bachs Matthäus Passion heißt es zum Beispiel in einem Rezitativ: „Da hub er an sich zu verfluchen.“ Aber darum geht es jetzt nicht, es geht um die Kardinaltugenden.
Peinlicherweise fiel mir zu Kardinal als aller Erstes die Kardinalschnitte ein, mit der wir unserer Großmutter väterlicherseits die letzten Lebensmonate versüßt haben (im wahrsten Sinne des Wortes). Das Kaffeehaus in dem wir diese Kardinalschnitte besorgen mussten war in Bregenz. Wie es hieß ist mir entfallen. In der Reichsstraße war es, Ecke Steinenbach. Nein, das ist noch nicht das Rätsel der Woche, aber wenn Sie zufällig wissen wie das Kaffeehaus hieß und mir schreiben, freue ich mich sehr.
Auf Platz 2 meiner Assoziationen lagen ex aequo der kirchliche Würdenträger und der Vogel, den live zu hören und zu sehen ich noch nicht das Glück hatte, gelesen habe ich aber viel über ihn und angeschaut (auf Bildern) hab ich ihn oft, er ist besonders schön, der rote Kardinal.
All das brachte mich selbstverständlich kein bisschen weiter bei der Auflösung der Montagsfrage.
Allerdings hat mich das Wort TUGEND von dem Moment an beschäftigt, in dem ich Thomas Matts Brief am vergangenen Sonntagabend gelesen hatte. Reimer Gronemeyer, so schreibt er, „fügt den altbekannten Tugenden noch neue hinzu, darunter die Sanftmut und die Gelassenheit.“
Beides hätte ich dringend gebraucht am Morgen danach auf dem Weg ins Büro. Ausnahmsweise war ich mit dem Auto unterwegs und wurde dafür schon wenige Meter nach der Ausfahrt aus der Garage gestraft: da hätte ich nämlich links abbiegen müssen in jene Straße, die Schwarzach und Wolfurt mit Dornbirn verbindet und auf der sich der morgendliche Pendlerverkehr vor sich hin quälte. Stockend, so nennen die das im Verkehrsservice. Man könnte also meinen, dass es in der Kolonne auf ein Auto mehr oder weniger nicht angekommen wäre. Aber weit gefehlt. Gezählte 78 Autofahrer*innen rollten im Schritttempo und mit sturem Blick nach vorne an mir vorbei. War es schnöde Ignoranz oder bewusstes Wegschauen? Ich wollte grad zu Toben anfangen, da fiel mir Thomas Matts Impuls ein. Zu den Tugenden, derer wir uns wieder besinnen sollten, da war ich mir sicher, zählt bestimmt auch Geduld. Sollte ich jemals wieder im Büro ankommen, was zu diesem Zeitpunkt eher unwahrscheinlich schien, würde ich diesbezüglich recherchieren.
Sie merken es an diesem Mail, es gelang und ich erkannte: ich hatte mich geirrt. Geduld zählt nicht zu den Kardinaltugenden, dabei benötigen wir die grad sehr.
Nun gäbe es zum Thema Kardinaltugenden einiges zu schreiben. Wenn Sie sich noch nicht eingehend mit dem Thema beschäftigt haben, wird es Sie nicht so besonders interessieren. Wenn schon, trage ich Eulen nach Athen. Deswegen nur in aller Kürze, wir unterscheiden zwischen den christlichen Tugenden: Glaube, Liebe, Hoffnung und den weltlichen Tugenden: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung.
Jetzt hätten wir genügend Stoff für einen Diskussionsabend in größerer Runde, allerdings baut uns Corona derzeit einen Berg aus Wenns und Abers und wir wissen noch überhaupt nicht wann wir den überwinden können.
Bis dahin empfiehlt es sich, bei entsprechender humoristischer Veranlagung: „Manah manah“ von den Muppets anzuhören https://www.youtube.com/watch?v=8N_tupPBtWQ , oder wenn Sie es erhebender angehen möchten: Jacqueline du Pré ist heute vor 37 Jahren gestorben. Ihre Interpretation von Edward Elgars Cellokonzert eignet sich hervorragend dafür, sich für rund 32 Minuten aus dem Alltag auszuklinken: https://www.youtube.com/watch?v=OPhkZW_jwc0 – Die Werbung davor muss man halt überspringen, aber dann…..
Davor aber noch die Frage: es gibt einen sehr bekannten Moderator eines deutschen öffentlich-rechtlichen Senders, der mittlerweile zwar in Pension dennoch – ob seiner Souveränität – unvergessen ist. Er hat als Korrespondent der ARD in Washington, D.C. gearbeitet und später im Frankreich-Studio der ARD. Seine Liebe zu Frankreich hat er in einigen Büchern mit seinen Lesern geteilt.
1995 hat er das „Buch der Tugenden“ herausgegeben. Texte von Philosophen, Dichtern, Theologen, Weisheitslehrern von der Antike bis zur Gegenwart und damit die entscheidenden Verhaltensregeln hat er darin gesammelt.
Wie heißt der Journalist und Autor?
Wenn Sie es wissen, haben Sie auch schon den heutigen Buchtipp zur Hand. Wenn nicht, wird Ihnen Thomas Matt am 2. November die Frage beantworten.
Mir bleibt nur noch, einen Satz mit Ihnen zu teilen, der mir bei meiner Recherche zum Thema „Tugenden“ begegnet ist:
Das Leben glückt dann, wenn der Mensch die Möglichkeiten verwirklicht, die in ihm angelegt sind.
In diesem Sinne: Alles Gute!
Herzliche Grüße
Bettina Barnay
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
das ist mir jetzt ein bisserl peinlich, denn statt wie alle Welt gebannt ins gleißende Bühnenlicht zu starren, wo eine noch immer unangenehm lebendige Ballerina namens Corona unverdrossen ihre Pirouetten dreht, geht mein Blick im Orchestergraben der Erinnerung spazieren. Und Schuld hat Bettina Barnay. Jawohl! Dass ihr im Angesicht meiner fundamentaltheologischen Frage nach den sieben Kardinalstugenden als erstes das Wort „Kardinalschnitte“ in den Sinn kam, hätte ich ja noch hingenommen. Aber dass sie offensichtlich in Kindertagen regelmäßig dasselbe Kaffeehaus besucht hat wie ich, um sich dort mit dieser Köstlichkeit aus Bisquit, Baiser und Kaffeecreme einzudecken, schlägt dem Fass den Boden aus! Wir sind also quasi als „Dreikäsehöche“ jahrelang aneinander vorbeigeschrammt und hatten nur Sinn fürs Backwerk!
Aber das Café Rosette war auch ein ganz besonderer Ort. Am Eingang zum Steinebach gelegen blickte ein kleiner Schanigarten auf die Bregenzer Bucht. Auf der anderen Straßenseite erhebt sich heute noch das Hotel zum grauen Bären der Familie Seyrling, die in ihrem weiten Hof – Vater Seyrling war ein Automobilist vom alten Schlag – geräumige Garagen vermietete.
Als Kind liebte ich es, an der Hand meines Vaters ins Café Rosette zu schlendern. Er unterhielt am Steinebach sein kleines Büro. Sein Peugeot 504 ruhte in einer von Seyrlings Garagen. Im Rosette nahm er gerne „ein Achtele“. Uns empfing dort die Frau Stötzlin. Die hinreißende Seniorchefin war klein von Wuchs. Wir begegneten einander also in Augenhöhe. Die gebürtige Tirolerin trug ihr Haar immer in einem sorgsam geflochtenen Knoten, lächelte großmütterlich und strich mir mitunter mit dem Handrücken über die Wange. Das duldete ich nicht bei jedem. Aber diese Dame war die Herrin über Kardinalschnitten und Erdbeertörtchen. Mehr Legitimation ist in Kinderaugen undenkbar. Für die Erkenntnis, dass ihre ausnehmend hübsche Tochter eigentlich das Geschäft führte, war ich einfach noch zu jung.
Womit wir wieder bei der Tugend wären. Und bei der grundrichtigen Erkenntnis, dass es Momente gibt im Leben eines Menschen, in denen Tugend – sagen wir mal, auch eine wohlverdiente Pause machen darf. Es hätte im Café Rosette mit all seinen süßen Verführungen auch sicher niemand z. B. … Ulrich Wickert gelesen. Sie kennen doch Wickert? Der hat 1995 das „Buch der Tugenden“ herausgebracht, von dem Ihnen Bettina Barnay erzählt hat. Eine überaus ehrbare Publikation, in der auch viel von Mäßigung die Rede ist. Im Café Rosette meiner Kindertage allerdings völlig fehl am Platz.
Wir sehen schon, dass uns die Verbindung von Kardinal und Kulinarik auf Abwege führt. (Die Wiener Küche kennt übrigens auch eine Kardinalsuppe, die sich von der Rinderbouillon nur dadurch unterscheidet, dass man ein Achtel Madeira zugießt.) Wer befreit uns aus dem Dilemma? Lutz Jäncke vielleicht? Der Zürcher Neuropsychologe hätte ja heute eigentlich auf der Bühne des Montagsforums 75.000 Jahre Menschheitsgeschichte Revue passieren lassen. Allein 40.000 Jahre davon verwendete der Mensch, um Kommunikationsformen auszuprägen. Die Sprache hat ihm letztendlich die Eroberung der Welt ermöglicht, schreibt der israelische Historiker Yuval Noah Harari. Zwei Theorien ranken sich um die Frage, warum der Mensch die Sprache ausgeprägt hat. Die eine – nennen wir sie ob ihrer Ernsthaftigkeit die à la Wickert – geht davon aus, dass der Urmensch mit Sprache vor allem nützliche Informationen austauschen konnte: Heute Morgen an der Flussbiegung eine Büffelherde gesehen, die flussabwärts zog. So nehmen Jäger Fährten auf.
Die zweite Theorie – man könnte auch sagen, die à la Café Rosette – besagt, dass der Urmensch zu sprechen begann, weil er sich über sein Umfeld austauschen wollte. Klatsch und Tratsch also. Der Mensch ist schließlich ein Herdentier. Das Funktionieren der Gruppe ist entscheidend fürs Überleben und die Fortpflanzung. Dazu reicht es nicht, zu wissen, wo die Büffel stehen. Viel wichtiger ist, darüber im Bilde zu sein, wer wen nicht leiden kann in der Gruppe, wer wem einen Faustkeil geklaut hat oder sich unlängst paarweise bei Sonnenuntergang ins Gebüsch verdröselt hat. Die Tugenden waren da noch nicht erfunden.
In seinem jüngsten Buch entführt uns der Historiker Harari übrigens zu den Geheimagenten des Mittelalters. Unter dem Titel „Fürsten im Fadenkreuz“ schreibt er von Spionage und Sabotage zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert. Angesichts dieser lustvoll erzählten Fülle an Verrat und Intrige erhält unser Bild vom ritterlichen Ehrenkodex rasch empfindliche Risse. Die Herren der Schöpfung waren beileibe nicht zimperlich.
Dabei war der, bis heute berühmteste Spion der Welt, eigentlich eine Frau. Die niederländische Nackttänzerin heuerte 1915 unter dem Namen H21 beim deutschen Geheimdienst an. Sie kennen doch ihren Namen, oder?
Bleiben Sie gesund und seien Sie hin und wieder … geheimnisvoll,
herzlichst,
Ihr Thomas Matt
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
Wenn Thomas Matt und ich in Kindheitserinnerungen schwelgen, dann hat das durchaus positive Auswirkungen auf unsere Psyche. So die Kindheit eine überwiegend erfreuliche war, tut die Erinnerung daran gut, besonders die gustatorische. Diese Erkenntnis stammt nicht von mir, sondern von einer Psychologin mit der ich vor Jahren zu tun hatte und die mir riet, in Krisensituationen Lieblingsspeisen meiner Kindheit zu essen (besser noch, sie von meiner Mutter kochen zu lassen). Damals sind mir als Erstes Béchamelkartoffeln eingefallen.
Bei Thomas Matts Erwähnung der Erdbeertörtchen aus dem Bregenzer Café Rosette floss mir nicht nur das Wasser im Mund zusammen, Gleiches taten einige Erinnerungen, die im Kinderzimmer meines Kopfhauses aufs Wiedererwecken gewartet hatten. Aus den Fluten des dergestalt entstandenen Memorabilien-Sees entstieg die Bäckerei Vochazer in der Maurachgasse in Bregenz. Die alte Frau Vochazer pflegte mich mit den Worten „Wia goht’s da Tilla?“ zu begrüßen. „Tilla“ war meine Großmutter mütterlicherseits. Die, mit der ich manchmal am Freitagabend „Der Kommissar“ mit Erik Ode schauen durfte, die immer Lyoner vorrätig hatte und alte Bregenzer Ausdrücke wie „Momele“.
Eine Mata Hari – denn sie war es, nach der Thomas Matt gefragt hatte – eine Mata Hari war Tilla wahrlich nicht, wohl aber eine Oma wie sie im Bilderbuche stand: Mit weißen Haaren, an Festtagen perfekt onduliert und dezent lila getönt. Kreuzworträtsel zu lösen war ihre große Leidenschaft und wie sie Puppenkleider genäht und gestrickt hat war meisterhaft!
Meisterhaft waren auch die Kokosbusserln vom Vochazer, aber genug jetzt mit dem Schwelgen in Erinnerungen an Bregenzer Institutionen. Wir haben eh schon ein schlechtes Gewissen all jenen gegenüber, die nicht aus Bregenz sind.
Können sich die Dornbirnerinnen und Dornbirner unter den Mofos übrigens ans Café Dietl erinnern?
Das ist noch nicht die Frage der Woche und davon soll jetzt auch nicht die Rede sein, sondern davon, dass wir heute unfassbar aktuell gewesen wären mit unserem Montagsforum Vortrag von Ulrich Schnabel. Er hätte uns nämlich erklärt, warum wir Menschen erstaunlich schlecht darin sind, die Zukunft vorherzusagen und warum wir selbst wegweisende Ideen anfangs oft ignorieren. Er hätte uns auch Vorschläge gemacht, wie wir uns besser auf das Neue einstellen und die Zukunft in unserem Sinne gestalten können. Aber da das Leben immer noch keinen Konjunktiv kennt, wenden wir uns der „Kunst, das Gute im Dunklen zu sehen, das Schöne im Zerbrochenen, das Entzückende im Unvollkommenen“ zu.
„Wabi-sabi“ heißt diese Kunst. Wenn Sie jetzt grad Wasabi gelesen haben, dann weiß ich, dass ich mich in guter Gesellschaft befinde. Man sollte es gründlich lesen, das Buch „hoffentlich“ von Clemens Sedmak, in dem ich den Begriff „Wabi-sabi“ entdeckt habe. Clemens Sedmak war 2013 zu Gast beim Montagsforum, erinnern Sie sich?
Obwohl ich Bücher gegen die Krise wenig schätze, weil sie sich ja letztlich mit dem beschäftigen womit ich mich grad sehr ungern auseinandersetze, hat mich das Buch begeistert.
„Das kleine Mädchen Hoffnung nimmt uns bei der Hand und zwingt uns mit der Beharrlichkeit eines eigensinnigen Kindes, den Blick auf anderes, auf Neues zu richten. Den Blick auf Hoffnungsträger und Hoffnungsgeschichten. Den Blick auf das, was wir tun können, um selbst Hoffnungsträger und Hoffnungsbringer zu sein.“
So schreibt Clemens Sedmak in seinem Buch und schon habe ich ein Bild vor mir:
Vor der von Thomas Matt beschriebenen „unangenehm lebendigen Ballerina namens Corona, die unverdrossen ihre Pirouetten dreht“ baut sich das eigensinnige kleine Mädchen Hoffnung auf. Breitbeinig steht es da, mit entschlossenem Blick. Wer die geballte Kraft eines sturen Kleinkindes schon einmal zu spüren bekommen hat, weiß, dass das kleine Mädchen gewinnt. Die Ballerina wird entnervt von der Bühne flüchten und sie dem kleinen Mädchen Hoffnung überlassen.
An dieser Stelle bitte ich alle Ballerinen um Verzeihung, wobei sich unter den Freund*innen des Montagsforums vermutlich nicht viele finden dürften. Aber vielleicht Kenner*innen des Balletts, die folgende Frage beantworten können: wie hieß sie denn, die wohl berühmteste russische Balletttänzerin aller Zeiten, nach der sogar eine Torte benannt wurde?
Womit wir schon wieder beim Essen wären. Aber wie schon Wilhelm Busch zu sagen pflegte: „Lieber ein bißchen zu gut gegessen, als wie zu erbärmlich getrunken“. Grammatikalisch fragwürdig, aber inhaltlich absolut korrekt.
In diesem Sinne: Lassen Sie es sich so gut wie möglich gehen!
Herzliche Grüße
Bettina Barnay
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
jetzt bin ich einigermaßen geplättet, weil ich mich doch schon in einem Universum aus Sahnecreme und Schokoguss gefangen sah, mitternachts schweißgebadet erwachte, kurz bevor mich ein cremetriefendes Eclair erschlug. Die deutsche Sprache nennt es übrigens „Liebesknochen“ und daran sehen wir, dass Übersetzungen nicht immer zum Vorteil gereichen. Traumwandelnd zwischen Rosette und Vochazer, Café Dietl und … Sie wussten eh, dass die beste Bananentorte im Café Danner im Hatlerdorf serviert wird … ergab ich mich fast schon dieser zuckersüßen Endlosschleife. Aber dann las ich die kleine, unscheinbare Frage, mit der uns Bettina Barnay in einem gewaltigen Befreiungsschlag erlöst.
Mit einem letzten, exquisiten Stück Patisserie.
Das muss einem erst einmal einfallen!
Die berühmteste russische Balletttänzerin aller Zeiten, nach der sie fragte, hieß Anna Pavlova. Sie kam 1881 in St. Petersburg zur Welt und starb 1931 auf einer Tournee an einer Lungenentzündung in Den Haag. Sie tanzte auf der ganzen Welt. Ein Asteroid trägt heute ihren Namen, eine russische Silbermünze und … eine Torte. Ein Kunstwerk aus Baiser (außen kross und innen weich), dazu Sahne und Beeren. Es soll an das Tutu, das Ballettröckchen der leichtfüßigen Tänzerin erinnern, das im Wesentlichen aus Tüll besteht. So leicht, so berückend schön und doch vergänglich, ein Genuss für den Augenblick ist diese frühlingshafte Rezeptur, die in Australien und Neuseeland gleichermaßen als Nationalgericht verzehrt wird. In beiden Ländern trat die Pavlova auf. Sie muss ungeheuren Eindruck hinterlassen haben. Bis heute balgen sich beide Länder um das Urheberrecht der süßen Referenz, so wie die Bosnier und Serben sich die Urheberschaft der Ćevapčići streitig machen. So ist der Mensch.
Also werfen wir einen letzten verzückten Blick auf diese hauchzarte Verführung höchster Backkunst und wenden uns dann der Tänzerin zu, dem Ballett, der Bühne, dem Orchester. Aber in den Kulissen bleibt es eigentümlich still und dunkel. Kein Applaus brandet auf, niemand verbeugt sich. Zwei Opernmäuse lassen gelangweilt ihre Schwänzchen vom Schnürboden herabbaumeln. Wir müssen uns erneut gedulden, auf dass sich hoffentlich im kommenden Jahr der Vorhang wieder hebt.
Übrigens: Was tut eine Ballerina eigentlich, wenn ihre besten Jahre vorüber sind? Tanzen ist ja ein hartes Geschäft. „Auf der Bühne stehen kann man nur bis 40.“ Diesen Satz hören die meisten Tänzerinnen und Tänzer, wenn sie ihre Ausbildung beginnen. Was kommt danach? Mehr als schmerzende, oft deformierte Füße? Ja, manchmal. Viel mehr!
Zeitreise: Ende Dezember, 2010. In Vorarlberg fällt der Schnee in dicken Flocken. Vor Havanna sinkt die Sonne als oranger Ball in den Golf von Mexico. Am Malecón wird getanzt. Auf der Terrasse des Hotel Nacional servieren sie Cuba Libre. Die Stimmung ist aufgekratzt. Bald ist Buchmesse. Dann pilgern Hunderttausende in die Fest St. Carlos und als Höhepunkt wird Fidel Castro einen Dialog mit Intellektuellen halten. Das heißt, er wird auf exakt drei Fragen jeweils rund eine Stunde lang antworten. Aber er ist milde geworden. Trägt jetzt Trainingsanzug statt Uniform. Den Zigarren hat er abgeschworen. Das steht alles in der „Granma“, der offiziellen Zeitung der Kommunistischen Partei Cubas, benannt nach der Yacht, mit der Fidel Castro, Che Guevara und 80 weitere Rebellen 1956 in Kuba gelandet waren.
Aber Fidels Gesundheit ist nicht die Titelstory. Die gehört Alicia Alonso allein. Denn „la Ballerina Assoluta“ wird 90. Formatfüllend ziert ein Foto die Titelseite. Es zeigt die Diva in einem Korbsessel, die Beine übereinandergeschlagen, das Haar unter einem roten Kopftuch verborgen. Ihr gegenüber sitzt Raúl Castro. Er hat inzwischen die Amtsgeschäfte seines Bruders übernommen. An diesem Tag gerinnt ihm die Pflicht zur Freude: Er ist gekommen, um zu gratulieren. Einen Blumenstrauß hat er ihr mitgebracht und … Flakons. Denn er hat es sich nicht nehmen lassen, in Havannas berühmtester Parfümerie einen Duft kreieren zu lassen, der fortan ihren Namen trägt: „Alicia“. In den kommenden Tagen wird diese Szene im kubanischen Fernsehen stets aufs Neue wiederholt: Ganz devot, beinah scheu hält ihr der Staatspräsident die kristallenen Flakons entgegen, die Alicia Alonso mit unnachahmlicher Grandezza entgegennimmt, als gewährte sie eine Huld. Was für eine hinreißende Geste!
Ja, Kuba hat etwas Zeitloses. Und deshalb will ich diese Post auch hier beenden. Draußen ist es eh kalt genug. Erwärmen wir uns am Gedanken an die Karibik. Wenn Sie Lust verspüren, allen Ausgangssperren zum Trotz noch mehr kubanische Luft zu schnuppern, dann lesen Sie doch ein Buch von Leonardo Padura. Der kubanische Autor hat mit Mario Conde einen rauen, eigenwilligen Kommissar erschaffen, dem man vergnüglich auf den Fersen bleibt, wenn er wie ein Wolf durch die Straßen der Hauptstadt stromert. Zuletzt erschienen: „Die Durchlässigkeit der Zeit“, im Unionsverlag.
Mit einem Schluck Rum und einer guten Zigarre übertaucht man außerdem die schlimmste Corona-November-Nebel-Lockdown-Depression. Apropos Zigarre: Eine der ältesten Zigarrenmanufakturen Kubas trägt den Namen des vielleicht berühmtesten Liebespaars der Literaturgeschichte. Und es ist nicht Tristan und Isolde…
Bleiben Sie gesund und uns gewogen,
herzlichst,
Ihr Thomas Matt
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
Das war ja klar: Thomas Matt fragt nach einer Zigarrenmanufaktur und mir fällt nix Besseres ein als „Carmen“. Eigentlich ziemlich unhöflich. So wie die Zeitgenossen, die einem Gespräch nicht aufmerksam folgen, wenn es nicht um ihr Thema geht und so schnell wie möglich inhaltlich wieder in Richtung ihres Interessengebietes abbiegen. Kennen Sie das? Furchtbar!
Unhöflich möchte ich aber nicht sein, also tue ich kund und zu wissen, dass die korrekte Antwort auf Thomas Matts Frage „Romeo y Julieta“ lautet. Die Geschichte zu dieser Zigarre und Manufaktur in Kuba ist übrigens lesenswert, ich darf Sie da aber an meine gute Freundin Wikipedia weiterleiten, die weiß alles (fast).
Aber eines ist schon erwähnenswert: rund 300 Arbeitsschritte werden für die Herstellung einer echten Havanna-Zigarre benötigt, die Dinger kosten eine Lawine. Und wofür? Damit die Zigarrenraucher wie Kater Carlo ausschauen, wenn sie an ihren stinkenden Auspuffrohren nuckeln.
Wobei – wenn ich ehrlich bin – eine „Romeo y Julieta“ hat noch nie jemand in meiner Nähe genossen, vielleicht riecht die ja gut. Hoffentlich, bei dem Preis.
Ein Themenwechsel ist angesagt, eine Erklärung für all jene, die nicht opernaffin sind: „Carmen“ – die Oper von Georges Bizet war es, die mir als Erstes zum Thema Zigarrenmanufaktur eingefallen ist. So sind sie die Assoziationen, scheren sich keinen Deut um Genauigkeit und Geographie. Carmen hat in einer Zigarettenmanufaktur in Sevilla gearbeitet. Also weder Zigarre noch Havanna. Aber immerhin könnte man jetzt, passend zum Zigarrenthema die „Habanera“ aus der Oper „Carmen“ anhören.
Oder, falls man weder ein Zigarren-, noch ein Opern-Aficionado ist (eine Ziga……..Aficionada, des Genderns wegen): die 1. und einzige Sinfonie von Georges Bizet. Am 29. Oktober 1855 hat der damals 17jährige begonnen daran zu arbeiten, im November des gleichen Jahres hatte er sie vollendet.
Die Sinfonie war eine Aufgabe, die er im Rahmen seines Kompositionsstudiums am Conservatoire in Paris bewältigt hatte. Da ist Aufbruch und Freude drin, in den Ecksätzen. Kann man grad gut brauchen. Auf youtube gibt es einige Gesamteinspielungen, die Interpretation von Bernard Haitink am Pult des Concertgebouw Orkest sticht hervor.
Aber zurück zu Thomas Matts Brief, der uns nach Kuba lockt. Da war ich noch nicht, aber immerhin gegenüber, in Key West, am Southernmostpoint. Die Klänge des „Son Cubano“ kann man dort nicht mehr hören. Sie wissen schon: das ist der Musikstil, der durch Wim Wenders Film „Buena Vista Social Club“ und natürlich durch Ry Cooders gleichnamiges Album weltweit populär wurde. Der „Son Cubano“ gilt als die Musik der Alten. Kein Wunder, es lässt sich wahrlich und auch mit Arthrose formidabel dazu tanzen. Probieren Sie es aus mit dem Menschen Ihres Vertrauens oder alleine, das geht auch.
„Haaaallo,“ mault mein Unterbewusstsein, „du solltest noch was zu Romeo und Julia schreiben!“. Die Unerbittlichkeit meiner inneren Stimme lässt mich ans Bücherregal treten und nach „Die Launen der Liebe“ von Markus Gasser greifen. In dem finden sich noch weitere Liebesgeschichten der Weltliteratur: Bettine von Arnim und Goethe, Gabriel Garciá Márquez, Femina Daza und Florentina Ariza, Sylvia Plath und Ted Hughes und einige mehr. Geschichten die nicht ganz so tragisch enden wie bei Shakespeare. Brauchen wir ja im Moment echt nicht, tragische Schlüsse.
Sie wollen keine Liebesgeschichten lesen? Kann ich auch verstehen, dann hab ich noch was anderes für Sie, das könnte auch schon ein Weihnachtsgeschenk-Tipp sein:
„Die Wunderkammer der Deutschen Sprache“, herausgegeben von Thomas Böhm und Carsten Pfeiffer.
Sprache hat unendlich viel mehr zu bieten als Vokabeln + Grammatik. Wenn Sie Sprachschätze heben wollen, dann empfehle ich Ihnen dieses Buch.
Fehlt also nur noch der Schluss und die Frage, wer ihn wofür geschrieben hat:
WLADIMIR: Also? Gehen wir?
ESTRAGON: Gehen wir!
Sie gehen nicht von der Stelle.
VORHANG
Das erinnert mich ein bisschen an die Situation in der wir uns grad befinden.
Nichtsdestotrotz: Lassen Sie es sich gut gehen, so gut wie möglich!
Herzliche Grüße
Bettina Barnay
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
Natürlich hätte Bettina Barnay auch ein anderes Zitat nehmen können, zum Beispiel:
Estragon: Komm, wir gehen.
Wladimir: Wir können nicht.
Estragon: Warum nicht?
Wladimir: Wir warten auf Godot.
Aber dann wäre ja alles verraten worden, der Autor Samuel Beckett und der Titel seines berühmtesten Stückes, das am 5. Januar 1953 vom Théatre de Babylone in Paris uraufgeführt wurde. Der irische Literaturnobelpreisträger, hat „Warten auf Godot“ in französischer Sprache geschrieben. Er war ja ursprünglich britischer Staatsbürger, wurde aber nach der Unabhängigkeit Irlands 1921 auch auf dem Papier Ire. Geraucht hat er übrigens wie ein Schlot, nur keine Zigarren. Das wissen wir auch aus seinen Briefen. Beckett hat nie gerne telefoniert. „Am Telefon bin ich nicht zu gebrauchen, das ist noch schlimmer als Auge in Auge“, schrieb er 1966 an seine langjährige Freundin Jocelyn Herbert. Überliefert sind unzählige Briefe, denen man auch einen ärztlichen Rat aus seinen letzten Lebensjahren entnehmen kann: „Verbot, die zwei Brillen gleichzeitig zu tragen. Weniger trinken. Weniger rauchen.“ Dieser vermessene Übergriff in sein Universum dürfte an Beckett abgeperlt sein wie Wassertropfen auf einem kühlen Glas Bier in der flirrenden Sommerhitze.
So viel zu Beckett, der uns mit seinem Theaterstück in die größtmögliche Unbestimmtheit stößt, in eine Welt voller Unklarheit und Doppeldeutigkeit, und da wollen wir nicht bleiben. Es kommt uns einfach zu bekannt vor. Aber Bettina wäre nicht ein so ausnehmend liebenswerter Mensch, zeigte sie uns nicht einen Ausweg: Mit einem einzigen Wort tut sie das, sie schreibt „Wunderkammer“.
Wunderkammer. Selbst wer den Begriff nicht in der Renaissance verortet, wer nur das Wort allein betrachtet, gerät ins Staunen. Wir stehen an einer Wand. Da ist eine Tür. Und dahinter liegen … Wunder! Ist das nicht großartig? Haben wir uns das nicht immer gewünscht, von Kindesbeinen an?
Als ich noch sehr viel kleiner war, zierten die Wand neben meinem Kinderbett drei Abziehbilder. Sie sahen ein wenig aus wie gemalt, wie Delfter Porzellan. Drei schwer beladene Segelschiffe waren es, die unter vollen Segeln dem Rauputz zu entkommen suchten. Ostindien-Kompanie, 17. Jahrhundert? Kann gut sein. Ich hatte sie im Tauschhandel meinem Freund Bertram abgeluchst. Und jetzt ging ich jede Nacht an Bord. Das war mein Tor in die Wunderkammer…
Jahre später hab ich dann eine wirkliche Kunst- und Wunderkammer betreten. Sie steht noch, im Schloss Ambras, hoch über Innsbruck. Wir verbrachten damals ein paar Urlaubstage. Vater hatte mich dem Anlass entsprechend augenzwinkernd ausstaffiert: Mit Schwert, Schild, Helm und Brustharnisch aus Plastik. Das legte ich nicht mehr ab. Auch beim Frühstück nicht, im Hotel. Mein fünf Jahre älterer Bruder muss sehr gelitten haben. Doch Gott ist gerecht. In Ambras stießen wir auf die Rüstung des Zwerg Thomele, das hat ihn sehr entschädigt.
Wirklich maulaffenfeil hielt ich aber erst, als wir durch eine Tür unversehens die Wunderkammer betraten. Erzherzog Ferdinand II. hat darin so ziemlich alles zusammengetragen, was im 16. Jahrhundert unerklärlich und sonderbar gewesen ist. Ein Glasglockenklavier und einen Pokal als Rhinozeros-Horn, fremdartige Musikinstrumente und metallene Spielfiguren, denen eine verborgene Mechanik Leben einhauchte, Fabelwesen und ein Korallenkabinett…
Und so zeugt die erhaltene Sammlung bis heute von einem einmaligen Augenblick der Menschheitsgeschichte: In den frühen Jahren der großen Entdeckungen, als der Europäer sich Zug um Zug immer mehr Teile auf der Landkarte der Welt erobert und zu eigen macht, technische Erfindungen macht sonderzahl, da kehrt noch einmal mit Macht das Wunder zurück. Und der wohlhabende Sammler der Renaissance schenkt ihm einen besonderen Ort, er hütet ihn wie einen Schatz. Er bewahrt sich die Fähigkeit zu staunen.
Staunen ist unendlich wichtig. Aristoteles nennt es den Anfang allen Philosophierens. Philosophieren beginnt, wenn die vertraute, alltägliche Welt ihre Selbstverständlichkeit verliert. Wenn wir nur mehr staunen können.
Können Sie das auch? Für heute gibt es kein Rätsel, dafür eine Frage: Wie sieht es denn in Ihrer Wunderkammer aus? Haben vielleicht auch Sie ein Objekt, dass Ihnen sonderbar und wundervoll zugleich erscheint? Dann erzählen Sie uns davon.
Wir sind gespannt!
Achten Sie auf sich und bleiben Sie gesund,
herzlichst,
Ihr Thomas Matt
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
in der Anlage zu diesem Mail finden Sie ein Foto, das habe ich am Samstag den 28. November aufgenommen. Auf dem Hochhäderich sitzend, diese herrlichen Berggipfel vor Augen und einen Gedanken im Kopf: „Wunderkammer“. Thomas Matt zeichnet für den Gedanken verantwortlich, denn am Samstag in der Früh hatte mich sein Montagsimpuls erreicht. Ich wollte den Brief eigentlich nicht lesen, weil nach dessen Lektüre der Wunsch, sofort darauf zu reagieren fast übermächtig wird. Das war am Samstag aber nicht möglich, weil Wandern angesagt war.
Aber es ging mir so wie früher an Weihnachten, also eigentlich VOR Weihnachten. Diese Spannung!!! Bekomme ich wohl das, was ich mir gewünscht hatte? Oder – im konkreten Fall – was schreibt Thomas Matt, der feinsinnige, wortgewandte Gedankenverzauberer?
Und wie früher auch (ich gestehe es freimütig), als ich ins Schlafzimmer meiner Eltern geschlichen bin, um im Kleiderschrank nachzuschauen, ob da eventuell ein Paket drin ist, dessen Ausmaße dem entspricht was ich mir gewünscht hatte (eine Puppe, die singen und sprechen konnte), wie früher auch, hab ich dann halt doch gegückselt. Und das Wort „Wunderkammer“ gelesen und verinnerlicht.
Und dann saß ich da, fast schon ganz oben auf dem Hochhäderich. Meine Mitwanderer haben den Gipfel erklommen, mir blieb eine halbe Stunde für mich und meine Gedanken.
Eine Wunderkammer war mein erstes Kinderzimmer. Wenn ich Ihnen sage, dass es nach meiner Übersiedelung ins ehemalige Zimmer meiner Brüder, die ihrerseits….. – aber das würde jetzt zu weit führen, dass es also nach meinem Auszug zum Speisekammerl wurde (bitte beachten Sie das minimierende l am Ende des Wortes), dann können Sie sich ungefähr vorstellen wie groß, nein klein es war. Quasi die Schuhschachtel meiner frühen Kindheit. Aber absolut perfekt, weil vom Tischler eingerichtet und so ausgemessen und geschreinert, dass alles drin war, was ich gebraucht habe. Das Fußende meines Bettes war so hoch, dass ich einen Hüpfgummi (Gummitwist – Sie erinnern sich?) drum herum wickeln konnte. Der wurde des Abends zu Zügeln, mein Bett zur Kutsche, meine Puppen und Kuscheltiere zu meinen Kindern, die ich retten musste. Wovor? Das änderte sich täglich. Wir hatten damals noch keinen Fernsehapparat und die Spannung, die sich die Kinder heute aus dem Fernsehprogramm oder irgendwelchen Krachbummpätsch-Videospielen ziehen, die holte ich aus den Tiefen meiner überbordenden Phantasie. Am Morgen war dann alles wieder gut. Ich öffnete die Vorhänge, die Sonne kam grad über den Pfänder, das Seil der Pfänderbahn glitzerte, der Tag konnte beginnen.
Das also dachte ich, da am Hochhäderich, in der Sonne sitzend und im nächsten Augenblick, weil ich mir des atemberaubenden Panoramas bewusst wurde, dass wir in einer veritablen Wunderkammer leben: Die Berge, die Weite, der Himmel, der See, die Sonne, die Luft, die Möglichkeit, in nur wenigen Minuten, ok – für manche in rund einer halben Stunde – einen Platz erreichen zu können, an dem man von oben herab auf dieses Nebelbett schauen und frei atmen kann, das ist im wahrsten Sinne des Wortes WUNDERbar.
Wunderbar wäre es natürlich auch, wenn wir uns bald wieder im realen MONTAGSFORUM sehen könnten, bis dahin empfehle ich Ihnen unsere Montagsforum Taschen. Mit denen tragen Sie die pure Zuversicht mit sich herum. Ein Foto sehen Sie in der 2. Anlage und bestellen können Sie die Tasche bei uns. Sie kostet € 16,- inkl. MwSt., Porto und Verpackung. Wir schicken sie Ihnen zu.
Das könnte auch ein Weihnachtsgeschenk sein, mit einem Buch drin: die Biographie von Barack Obama habe ich begonnen zu lesen und derzeit bin ich über jeden Regentropfen und jede Schneeflocke froh, denn die geben mir den Freifahrtschein weiterzulesen.
Wir hoffen auf viele Taschen-Bestellungen und wünschen Ihnen eine so gut wie mögliche Zeit. Genießen Sie was es zu genießen gibt.
Herzliche Grüße
Bettina Barnay
Buchtipp: Barack Obama: Ein verheißenes Land. Übersetzt von Sylvia Bieker, Harriet Fricke, Stephan Gebauer, Stephan Kleiner, Elke Link, Tho
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums
«Das ist die stillste Zeit im Jahr – immer wenn es Weihnacht wird.»
So beginnt ein Weihnachtslied, das mir aus meiner Zeit im Gymnasium in Erinnerung geblieben ist. Wie oft haben wir es mit unserem Schulchor gesungen, bei verschiedenen Weihnachtsfeiern, zu denen unser Chor eingeladen war. Und ich erinnere mich auch daran, dass wir fanden, dass das Lied nicht mehr so richtig in unsere Zeit passt – schon damals. Denn so richtig still ist die Vorweihnachtszeit ja schon seit Jahrzehnten nicht mehr.
Und in diesem Jahr?
2020 war als Ganzes ein unerwartet stilles Jahr für viele von uns und es mag bei manchem die Frage aufkommen, ob es mit der Stille nun denn nicht langsam genug sei. Zu Recht, ist man geneigt zu sagen.
Aber da kommt mir eine andere Erinnerung ins Bewusstsein, jene an einen außergewöhnlichen Menschen, der die Stille geliebt hat und von dem ich in den zehn Jahren, die ich mit ihm in meiner Luzerner Zeit zusammenarbeiten durfte, vieles über die Schönheit und Bedeutung der Stille gelernt habe: Der Dirigent Claudio Abbado.
Für ihn war die Stille Ort der Inspiration, er brauchte sie um leben und um arbeiten zu können. Über viele Jahre hinweg verbrachte Abbado seine Sommer im Engadiner Fextal, einem autofreien Ort auf 2000 m Seehöhe, wo einzig der kleine Bach Fedacia, der das Tal durchzieht, eine gewisse Geräuschkulisse bildet. In stundenlangen Wanderungen, oft gemeinsam mit seinem Freund, dem Schauspieler Bruno Ganz, nahm er die Stille und die Schönheit der Landschaft in sich auf, um sie dann als Quelle der Kraft zu nutzen, wenn er sich zum Studium an die Partituren jener Werke setzte, die einige Wochen später beim Lucerne Festival auf dem Programm stehen würden. Manchmal konnte es geschehen, dass es mitten im Sommer zu schneien begann. Dann ging Claudio – so durften wir ihn alle nennen – auf den Balkon um den Schnee fallen zu hören. «Ich liebe den Klang des Schnees….» – so seine Worte.
Unvergessen sind auch die nicht enden wollenden stillen Momente am Ende seiner Konzerte. Wenn es still ist am Ende, dann haben die Menschen zugehört – so sein Credo. Und oft dauerte diese Stille gar Minuten, bevor dann irgendjemand im Publikum es nicht mehr aushielt und der Applaus einsetzte.
Im Fextal hat Claudio Abbado auch seine letzte Ruhe gefunden, auf dem kleinen Friedhof der Bergkirche, die der Hl. Margarita geweiht ist. Eine bescheidene Natursteinplatte mit seinem Namen verschließt das Urnengrab, und immer liegen Blumen oder kleine Steine dort, als letzter Gruß von Menschen, die diesen außergewöhnlichen Dirigenten verehrt und geliebt haben.
Wolfgang Schreiber, von 1978 bis 2020 Musikredakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, hat Claudio Abbado über Jahrzehnte begleitet und im Jahr 2019 eine beeindruckende Biografie über ihn herausgebracht, die ich Ihnen für die Weihnachtstage ans Herz legen möchte.
Still – und damit komme ich zu jener Information, auf die Sie heute wohl alle gespannt warten – still bleibt es auch weiterhin im Montagsforum. Zwar liegt ein fertiges Programm in der Schublade – und nicht nur eines -, aber ein realistischer Blick auf die kommenden Monate lässt eine Wiederaufnahme unseres Vorlesungsbetriebes – zumindest vorerst – nicht zu.
Natürlich wird es, nach einer kurzen Weihnachtspause, weiterhin unsere Montagsimpulse geben. Und sollte sich wider Erwarten im Laufe des Frühjahrs die Situation so entspannen, dass wir das Montagsforum wieder im normalen Rahmen abhalten können sollten, dann haben wir bereits einiges auf Lager, was wir Ihnen dann auch ganz kurzfristig anbieten können und werden. Versprochen!
Lassen Sie mich schließen mit einem Dank:
Einem Dank an Sie für Ihr ungebrochenes Interesse, für unzählige aufmunternde Emails und Kommentare und auch für die finanzielle Unterstützung, die Sie uns zukommen haben lassen.
Mit einem Dank an unsere Sponsoren und Förderer, die uns in dieser herausfordernden Zeit treu geblieben sind.
Und mit einem ganz besonderen Dank an unser Team, an Bettina Barnay und Renate Erhard, die sich nicht entmutigen haben lassen und unermüdlich die Stellung gehalten haben, nochmals an Bettina Barnay und an Thomas Matt für ihre wunderbaren, bereichernden und unterhaltsamen Montagsimpulse, und an die Kolleginnen und Kollegen vom Vorstand, die die undankbare Aufgabe wahrnehmen mussten, unpopuläre Entscheidungen zu fällen, die uns allen nicht leichtgefallen sind.
So wünsche ich Ihnen allen im Namen unseres gesamten Teams ein frohes Weihnachtsfest und Glück, Gesundheit und Zuversicht für das Neue Jahr – die werden wir brauchen!
Herzlich, Ihre
Christine Rhomberg
Buchtipp:
Wolfgang Schreiber «Claudio Abbado. Der stille Revolutionär.» Erschienen im Verlag C.H. Beck, 2019.
CD-Empfehlung:
Claudio Abbado, Lucerne Festival Orchestra – Das letzte Konzert – Anton Bruckner, Sinfonie No. 9
Erschienen bei der Deutschen Grammophon.
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
Der Wind liebkost die Haut mit tausend Nadelstichen, festgetretener Schnee knirscht vornehm unter den Schritten, dann gibt der Wald die Lichtung frei und mit ihr einen strahlend blauen Himmel, darin die Sonne, die nun Tag für Tag an Kraft zulegt: Willkommen in diesem neuen Jahr 2021, das schon so vielversprechend begonnen hat! Den Nebel vertreibt es immer öfter aus den Niederungen, die Verzagtheit weicht aus unseren Herzen, Impfen und Testen eröffnen Perspektiven, und Verrückte werden jenseits des großen Teichs der Orte verwiesen, an die sie partout nicht hingehören. Vielleicht wird ja doch noch alles gut, denkt sich der unverbesserliche Optimist, und die noch unbelehrbarere Variante davon hat schon wieder Bilder im Kopf…
Dieser nimmermüde Schwärmer schaut nach vorn in den Herbst und erblickt dort Menschen, wie sie vergnüglich dem Dornbirner Kulturhaus zustreben. Bettina Barnay strahlt im Foyer mit Renate Erhard um die Wette, Christine Rhomberg plaudert angeregt mit dem Referenten, der das neue Semester eröffnen soll. So richtig eröffnen – das stell man sich mal vor – am Rednerpult, vor richtigen Menschen! Alle Vorstände und Beiräte sind wieder da und tragen Konfirmandengesichter zur Schau. Auf der Hinterbühne nestelt der Moderator nervös an seinen Zetteln. Der weiß ja gar nicht mehr, wie das geht. Nur die Crew im Kulturhaus hat die Ruhe weg: Thomas an der Regie, „Mike“, der eben per Knopfdruck den Bildschirm freigibt – alles wie immer. Oder besser noch, wie früher!
Dann erstirbt das Licht im Saal. Ein Raunen geht durch die Reihen. Jetzt wird es mucksmäuschenstill. Da läutet ein Handy. Und im ganzen Saal gleitet ein Lächeln der Erinnerung über die erwartungsfrohen Gesichter.
Wir sehen, dieses Jahr hat noch ganz schön zu tun, wenn es unsere Sehnsüchte erfüllen will! Aber die Tage werden ja länger, und mit ihnen wachsen Triebkraft und Begeisterung. Wir planen schon wieder und haben tausend Ideen in unseren Köpfen. Bis zu deren Verwirklichung sollen unsere Montagsbriefe ein wenig Kurzweil schaffen.
Aber Sie werden vielleicht fragen: Habt Ihr denn gar keine Angst? Nach all den Unsicherheiten und Hiobsbotschaften der vergangenen elf Monate gar keine Angst? Wo man doch morgens nicht mehr weiß, was abends noch gilt? Doch, schon ein wenig, aber Angst ist die Mutter der Zuversicht, nämlich so:
Die Pandemie hat uns alle aus der Oberfläche unseres Alltags in Abgründe gestoßen von Bedrohung, Krankheit und Verlassenheit. Der deutsche Philosoph Wilhelm Schmid hat die Folgen im Frühsommer 2020 für den NDR betrachtet. Der Angst hat er dabei die Zuversicht wie selbstverständlich beigesellt. Schmid ist kein Unbekannter. Er war auch schon in Dornbirn zu Gast, Sie erinnern sich? Im Mai 2014 hat er über Gelassenheit gesprochen.
Aber zurück zur Angst. Die schien doch eigentlich überwunden. Die Moderne verhieß Erlösung im Diesseits. Sie räumte gründlich auf mit der Angst vor Teufeln und Gespenstern. Sollten nicht Wissenschaft, Wirtschaft, Technik und Politik die Menschen endlich befreien? Aber der Einzelne wurde vor allem seiner Geborgenheit in sozialen, traditionellen, religiösen Bindungen beraubt. Karl Jaspers sieht den modernen Menschen „wie einen verlorenen Punkt im leeren Raum versinken“, wenn er die Verletzlichkeit seiner Existenz erfährt.
Auch uns wurde im vergangenen Jahr ein paar Mal bang, und mit Wilhelm Schmid denken wir daran, dass das Wort „Angst“ auf das lateinische angustía zurückgeht, was so viel bedeutet wie Engpass und Bedrängnis. Die Weite der Möglichkeiten reduziert sich auf eine einzige, in ihrer Enge bedrohliche Wirklichkeit.
Nur, Angst hat auch Ihr Gutes. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard nennt sie gar die „bestmögliche Lehrerin des Lebens“. In der Corona-Krise hat sie zur rechten Zeit dafür gesorgt, dass wir uns wappnen.
„Wenn sonst nichts dazu führt, sich um sich und dieses Leben zu kümmern, dann ist es die Angst“, schreibt Schmid. Sie macht uns unruhig, denn sie stellt uns Fragen: Ist das Leben, so wie es gelebt wird, bedroht? Ist das Ich auf dem richtigen Weg? Sind die Verhältnisse, die auf das eigene Leben einwirken, schädlich oder förderlich? Kurzum: Die Angst und die daraus resultierende kluge Sorge macht uns sensibel für uns selbst, die anderen, die Welt. „Sie befördert die Vorsicht, Rücksicht, Umsicht und Voraussicht.“
Entscheidend ist Schmid zufolge nur, ob wir den Stachel der Angst aufnehmen, um ihn kreativ zu wenden. „Denn es ist merkwürdig, ausgerechnet in der Erfahrung der Angst scheint ein Mensch den tieferen Atem schöpfen zu können, der nötig ist, um in kommenden Zeiten neue Höhen des Lebens zu erklimmen.“ So erwächst aus der Angst Zuversicht. „Genau dann, wenn wir unsere Ängste ernstnehmen und Vorsorge treffen, um für alle Fälle gut gerüstet zu sein, können wir auch voller Zuversicht sein.“
Diese Zuversicht soll uns durchs Jahr tragen. Schmid empfiehlt als überaus hilfreich den „Blick auf das mögliche Schöne und Bejahenswerte des künftigen Lebens“. Zum Beispiel den Gedanken an einen beliebigen Montagmorgen im Dornbirner Kulturhaus…
Bleiben Sie gesund,
von Herzen alles Liebe,
Thomas Matt
PS: Von Wilhelm Schmid erscheint im März 2021 neu bei Suhrkamp: „Heimat finden. Vom Leben in einer ungewissen Welt.“ Im Internet publiziert Schmid unter www.lebenskunstphilosophie.de
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
Man möchte ja Kind sein in diesen Tagen, den Schnee mit den bloßen Händen auffangen, die Flocken im Mund zergehen lassen, sich ins weiche Weiß werfen und solange mit Armen und Beinen wacheln, bis ein Engel entstanden ist, quasi ein Schneekeks und wir sind die Form.
„Dieses Jahr hat noch ganz schön zu tun, wenn es unsere Sehnsüchte erfüllen will.“ Das hat Thomas Matt in seinem letzten Montagsimpuls geschrieben. Eine meiner Sehnsüchte hat es schon erfüllt das Jahr: die nach einem perfekten Wintertag. Gut ja, in den Nachrichten wurden uns natürlich postwendend die negativen Seiten der weißen Pracht aufgezeigt: „Autofahrer vom Wintereinbruch überrascht“ war des Öfteren zu lesen und man fragt sich, warum sich Autofahrer*innen im JÄNNER, nach den vorangegangenen Warnungen der Meteorologen und in unseren Breitengraden „vom Schnee überrascht“ fühlen können.
Pinguine in freier Wildbahn würden mich in Vorarlberg überraschen, Schneefall im Winter eher nicht.
Apropos Pinguine: Kennen Sie das Buch „Am Südpol, denkt man, ist es heiß“? Elke Heidenreich hat den Text geschrieben, Reime sind es von hinreißendem Charme. Quint Buchholz zeichnet für die Illustrationen verantwortlich. Wunderschöne Bilder von Pinguinen, die am Südpol auf die Ankunft des Opernschiffs warten. Darauf: die drei Tenöre (ja, das Buch ist schon ein bisschen älter), die den Pinguinen und den Leserinnen und Lesern des Buches die Oper „La Traviata“ näherbringen. Nie habe ich eine trefflichere Zusammenfassung des Inhalts dieser Oper gelesen als bei Elke Heidenreich. Erstaunlicherweise lassen sich Kinder fast jeder Altersstufe von der Geschichte verzaubern, wenn man sie ihnen mit der gebotenen Hingabe vorliest.
Pinguine nehme ich mir in Zeiten wie diesen gerne zum Vorbild. Sie zeichnen sich durch besonderes Durchhaltevermögen und eine damit verbundene kluge Strategie aus: Wenn es gar zu kalt ist rücken sie zusammen. Wir tun das ja auch, jetzt gerade, wir rücken zusammen. Zwar nicht geographisch und physisch, das dürfen und sollen wir auch nicht, aber emotional.
Wir schreiben per WhatsApp (inzwischen auch und immer mehr auf Signal) liebe und/oder lustige Botschaften, wir verschicken Fotos von schönen Momentaufnahmen, wir teilen den Menschen die wir gernhaben aber nicht besuchen dürfen mit, dass wir an sie denken. Wir telefonieren mit ihnen.
Ein Telefonat eröffnete mir vergangene Woche die Schattenseiten des Winters, wer an schneereichen Tagen rund ums Haus Schnee schaufeln muss, wer trotz der Straßenverhältnisse raus muss aus der Komfortzone, wird meine kindliche Freude am „Winter wie früher“ mit Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen. Wer ausgerutscht und sich verletzt hat, flucht zurecht und bei all denen bitte ich um Verständnis dafür, dass ich den Blick in den tief verschneiten Wald vor meinem Wohnzimmerfenster trotzdem beglückend finde.
Thomas Matt empfahl uns ja auch den Blick auf das Schöne und Bejahenswerte. Da ist Subjektivität erlaubt. Und die wiederum, die Subjektivität, bringt mich noch zu einer Frage an Sie die aus der Tatsache resultiert, dass ich die ehrenvolle Aufgabe hatte, in das Freundebuch meines jüngsten Enkels zu schreiben.
„Wer ist dein Held?“ wurde da gefragt.
Einmal ganz abgesehen davon, dass ich es im 21. Jahrhundert ein wenig befremdlich finde, dass hier nicht gegendert wird, habe ich Stunden damit verbracht über dieses Thema nachzudenken.
Zweifellos sind alle Menschen Held*innen, die ihre kranken Angehörigen, trotz der damit verbundenen Herausforderungen und Schwierigkeiten, liebevoll zuhause pflegen. Es gibt einige Berufsgruppen, die Heldenhaftes leisten, derzeit sind es etwa die Mütter und ein paar Väter, die die Balance zwischen Homeschooling und ihrem Job zu bewältigen haben und ihre Contenance behalten. Aber wenn wir jetzt einmal die lebenden Heldinnen und Helden aus und vor lassen, wer fällt Ihnen ein?
Wer ist Ihre Heldin, wer ist Ihr Held?
Ich bin sehr gespannt auf Ihre Antworten und grüße Sie herzlich und mit nicht nachlassender Zuversicht und Lebensfreude.
Bettina Barnay
Buchtipp: Am Südpol, denkt man, ist es heiß | Heidenreich, Elke, Buchholz, Quint | ISBN: 9783446194434
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
er hat keine größeren Einkäufe geplant, das sieht man gleich. Nicht einmal einen Einkaufswagen schiebt der hochgewachsene Mann vor sich her. Er schlendert mehr zwischen den Regalen, als dass er hastig das Nötigste zusammentrüge. Jetzt hat er bei den Fischdosen Halt gemacht. Er hält eine Dose Thunfisch prüfend vor die alten Augen. Dazu nestelt er umständlich die randlose Brille aus dem Revers seines ordentlichen, schon etwas abgetragenen Sakkos. Erst jetzt wird er der jungen Verkäuferin gewahr, die ganz in der Nähe bei den Nudeln für Nachschub sorgt. „Verzeihen Sie“, spricht er sie an und fragt in der Folge allerlei über den Fisch im Allgemeinen und im Besonderen, die aktuellen Sonderangebote und die Mühe ihres Berufsstands. Ihr kommt das offenkundig gerade recht. So stehen die beiden eine ganze Weile in gebührendem Abstand und unterhalten sich.
Zwei Euro wird ihn die Dose kosten. Aber er trägt viel mehr nach Hause.
Das sind sie also, meine Helden.
Bettina Barnay hatte danach gefragt. Wer ist ihr Held? So hat sie uns herausgefordert. Jetzt wissen wir zwar noch immer nicht, was sie ins Freundesbuch ihres jüngsten Enkels geschrieben hat, aber das geht uns auch gar nichts an. Ich bin selber eine Antwort schuldig. Und da stehen sie, mitten im Supermarkt: Die Verkäuferin und der ältere Herr – meine Helden. Sie haben einander Zeit geschenkt und Aufmerksamkeit. Der Inhalt des Gesprochenen ist ihnen vermutlich längst entfallen. Aber das ist im Grunde gar nicht so wichtig. Ein jeder hat den anderen gesehen und ist gesehen worden.
Sie beide zählen für mich zu jener unscheinbaren Heerschar von Helden, die in all der Aufgeregtheit unserer Tage ihren Alltag meistern, ruhig, freundlich und würdevoll. Unscheinbar waren meine Lieblingshelden immer, selbst in der Literatur. Gewiss, lustvoll segelte man als Dreikäsehoch mit Odysseus um die halbe Welt, focht an der Seite von König Artus oder entriss dem Drachen die Prinzessin. Aber als man sich dann eingestehen musste, dass es Drachen gar nicht gibt und auch Prinzessinnen sehr viel seltener vorkommen als das Märchen uns glauben macht, da traten die unscheinbaren Helden aus dem Schatten: Der Schweinehirten Eumaios zum Beispiel, der als erster in der zerlumpten Gestalt eines Bettlers seinen Herrn und König Odysseus auf Ithaka erkennt, oder Parzival, als er noch ein „tumber Tor“ war, bis hin zu Hans Falladas kleinem Mann Johannes Pinneberg. Haben Sie den letzten Satz von Falladas Roman noch im Ohr? „Es ist das alte Glück, es ist die alte Liebe […] Und dann gehen sie beide ins Haus, in dem der Murkel schläft.“ Als winziges Rädchen in der verkorksten Maschinerie der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre haben sich der arbeitslose Johannes und sein „Lämmchen“ Emma mit ihrem gemeinsamen Sohn Horst, genannt Murkel, ihre Selbstachtung bewahrt.
Ich glaub’, so sehen Helden aus. Ganz anders als im Kino. Oft überraschend anders. Das mag man sich kaum vorstellen. Das wäre ja wie … Jesus Christus statt edel und mit onduliertem Haupthaar mit Bauchansatz und Halbglatze. Nein, keine Angst, ich bin nicht durchgeknallt. Der Paderborner Religionswissenschaftler und Alttestamentler Bernhard Lang macht uns in einem seiner bemerkenswertesten Bücher mit ihm bekannt, diesem so ganz anderen Christus. Das Buch trägt den Titel „Jesus der Hund“. Das klingt verächtlich. Aber Lang lässt in keiner Zeile den nötigen Respekt vermissen. Er stellt die Figur des Jesus von Nazareth lediglich in das philosophische zeitliche Umfeld und ordnet ihn in die Reihe der Kyniker ein, der Wanderprediger mit Bettelsack und zerschlissenem Philosophenmantel. Daher der Titel. Die Bezeichnung Kyniker leitet sich vom griechischen Wort kyon ab. Es bedeutet „Hund“. Diesen Spitznamen geben die Athener dem Antisthenes, der die kynische Philosophie begründet hat. Ihr berühmtester Vertreter Diogenes – Sie wissen schon, der im Fass – soll eines Morgens mitten auf der Agora gefrühstückt haben. Die Athener beschimpften ihn als Hund. Er aber antwortete augenzwinkernd: „Die Hunde seid Ihr, denn Ihr umlagert meinen Tisch!“
Was um alles in der Welt haben nun Diogenes und Jesus gemeinsam? Davon handelt diese Studie. Bernhard Lang führt den staunenden Leser quasi von den Raben, die den Propheten Elija ernähren, über die Vögel in kynischen Gleichnissen bis zum berühmten Gleichnis von den Vögeln im Himmel: Sie säen nicht, sie ernten nicht…
Auf 240 Seiten vernetzt Lang das Gedankengut der alten Welt, schenkt uns beeindruckende Einblicke in den ältesten philosophischen Text in hebräischer Sprache, das Buch Kohelet, er lässt uns miterleben, wie dieser Jesus gesellschaftliche Normen hinter sich lässt, und schält aus all den Bezügen und Traditionen ein neues Bild heraus: Jesus den Philosophen eben. Er ist es wirklich wert, seine Bekanntschaft zu machen.
PS.: Die kynische Philosophie hat zu allen Zeiten ihre Spuren hinterlassen. Selbst ein berühmter italienischer Dichter hat sich für Diogenes und Sokrates einen Ort am Rande der Hölle ausgedacht, wo es nicht ganz so wehtut. Er hat übrigens heuer Todestag, dieser Dichter, einen runden. Sie wissen sicher schon, von wem die Rede ist.
Bleiben Sie gesund und neugierig,
herzlichst,
Ihr Thomas Matt
Literatur: Bernhard Lang, Jesus der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers, (Verlag C. H. Beck) München 2010, 240 S.
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
Es ist Zeit für ein Geständnis und – damit verbunden – eine kleine Geschichte:
Rund 40 Jahre ist es her, da entsetzte mich mein Philosophieprofessor am BORG Lauterach mit folgender Ankündigung:
„Es ist hoch an der Zeit die Barnay aus ihrem philosophischen Dauerschlaf zu wecken.“
Im Juni war das, in der 7. Klasse kurz vor Notenschluss, also zu einem Zeitpunkt zu dem ich mich schon im baldigen Besitz eines Zeugnisses wähnte, das mir einen geruhsamen, weil fünferlosen, Sommer versprach. Der war nun in höchster Gefahr.
Das mit dem „Dauerschlaf“ war außerdem ungerecht. Tatsächlich habe ich mich schon damals in einer Fertigkeit geübt, die ich an Ninjas maßlos bewundere. Diese japanischen Meister der Kampfkunst verschmelzen mit dem Hintergrund. Sie tun das, um von Feinden nicht entdeckt zu werden.
In meinem Fall waren es keine lebensbedrohlichen aber doch ungemütlichen Situationen, denen ich so auszukommen suchte. Etwa der Blick auf mich aus den Augen der Professoren in Unterrichtsgegenständen für die sich mein Interesse in sehr überschaubaren Grenzen hielt. Dieser Blick war, wie das oben angeführte Beispiel zeigt, leider meistens mit einer Frage zum aktuellen Stoff verbunden. Die wiederum hatte eine meist wenig zufriedenstellenden Antwort meinerseits zur Folge und beides zusammen ergab ein Mitarbeitsminus. Das galt es zu verhindern, also übte ich mich darin, mit der Rückwand des Klassenzimmers eins und damit unsichtbar zu werden. Das gelang mir erstaunlich oft, aber leider nicht immer was darauf zurückzuführen ist, dass ich mir diese Ninja-Fähigkeit im Selbststudium angeeignet habe.
Philosophie, das ist das Geständnis, gehörte zu den Schulstunden in denen ich mich im unsichtbar Sein übte und das ist NICHT meinem Professor anzulasten. Lothar Rubner hieß er. Bitte grüßen Sie ihn herzlich von mir falls Sie ihn kennen. Ich mochte ihn sehr, aber mit Philosophie konnte ich damals einfach nichts anfangen und das hat sich bedauerlicher Weise in den folgenden 40 Jahren nicht wesentlich geändert. In diese Wissenschaft muss man richtig eintauchen, um zu der Weisheit und dem Wissen zu gelangen, mit dem uns Thomas Matt all vierzehntägig zutiefst beeindruckt. Vielleicht öffnet er sich uns und erzählt uns, wer oder was sein Interesse an der Philosophie geweckt hat.
Im Zuge meines Studiums wurde ich mit einer pädagogischen Idee konfrontiert, die mich begeistert hat: wie wäre es denn, wenn wir Kindern ein Wissens-Gutschein-Heft auf ihren Weg mitgäben? Wann immer sie sich eines Fachgebietes intensiver anzunähern wünschten, böten wir ihnen dazu die Möglichkeit.
War´s Rousseau der diese Idee hatte, oder Pestalozzi? Vermutlich eher Letzterer und bevor Sie mich in einen Disput über seine und Rousseaus Erziehungsphilosophie verwickeln, sag ich Ihnen gleich, dass bei beiden sehr viel Unsinniges zu lesen ist, das ist mir schon klar. Aber die Idee mit den Gutscheinen, die hat was. Markus Hengstschläger, der ja schon zwei Mal beim Montagsforum zu erleben war, ortet im Schulsystem ähnliche Defizite wie ich.
Eine umfassende humanistische Bildung zu erhalten ist unbestritten erstrebenswert, aber was macht man mit einem jungen Menschen (wie ich einer war), der für Musik, Deutsch und Fremdsprachen brennt und Nachhilfestunden in Mathematik nehmen muss, um das Klassenziel und die Matura erreichen zu können, ohne die das ersehnte Studium nicht möglich ist?
Musik- und Tanzerziehung habe ich studiert, dafür braucht man (Achtung Sarkasmus): echt dringend Differential- und Infinitesimalrechnungen und all das Zeug, das mir tagelang meine Zeit und nächtelang meinen Schlaf geraubt hat, Jahr für Jahr. Auch da sind meine ehemaligen Lehrer unschuldig und ich verbeuge mich an dieser Stelle vor Helga Gstach (leider posthum) und Norbert Kolb, die beide nie die Geduld mit mir verloren haben.
Ich hätte trotzdem lieber mehr gelesen, Klavier geübt und ab der 10. Schulstufe statt Mathematik Italienisch gelernt.
Apropos Italien: beim – von Thomas Matt im letzten MONTAGSIMPULS – gesuchten italienischen Dichter, der sich für Diogenes und Sokrates einen Ort am Rande der Hölle ausgedacht hat, wo es nicht ganz so wehtut, handelt es sich um Dante Alighieri. Im September jährt sich sein Todestag zum 700. Mal.
Sehen Sie, das ist neben vielem anderen das Beruhigende und Beeindruckende am Team des Montagsforums: die Damen und Herren, die bei uns im Vorstand und im Beirat tätig sind, sind in den unterschiedlichsten Wissensgebieten firm. Da wird viel gelesen, recherchiert und diskutiert und deswegen können wir Ihnen, wenn wir dann wieder dürfen, diese Gutscheine (= Vorträge und Diskussionen) anbieten, mit deren Hilfe wir alle unser Wissen erweitern können.
Fehlt noch der Buchtipp und das Rätsel und Sie werden sich nach meiner Einführung nicht darüber wundern, dass beides nicht aus dem Bereich der Philosophie stammt.
Gesucht ist ein Musiker dessen Vorlesungen zum Thema Aufführungspraxis am Mozarteum in Salzburg fulminant waren. 1929 wurde er geboren, seine musikalische Laufbahn begann er als Cellist bei den Wiener Symphonikern. Nach 17 Jahren im Orchester entschloss er sich, seine musikalischen Vorstellungen VOR den Orchestern umzusetzen und nicht mehr in der Cellogruppe darunter zu leiden, dass sie sehr oft in diametralem Gegensatz zu dem standen, was die Dirigenten am Pult der Wiener Symphoniker vom Orchester einforderten.
Er gründete ein Originalklangensemble, das dank ihm weltberühmt wurde, er hat aber natürlich auch sämtliche Weltklasseorchester dirigiert. 2001 und 2003 etwa die Wiener Philharmoniker im Neujahrskonzert.
Der Gesuchte verfügte über eine ungemein bildreiche Sprache, mit der er den Musiker*innen seine musikalischen Wunschvorstellungen vermittelte.
Wem außer ihm hätten folgende Vergleiche einfallen können:
Bach: Johannespassion, der Chor singt: „Wir haben ein Gesetz…“ und der Dirigent sagt in der Probe: „Das muss klingen wie auf einem Passamt, man muss die Ärmelschoner hören…“.
Monteverdi: Marienvesper, „Süditalien…..singen Sie das mit Fischgeruch in der Nase…“
Und so weiter. Diese Zitate entstammen einem Buch, das ein Quell der Heiterkeit und des Staunens ist und sein Titel ist derzeit mein Lebensmotto:
„Unmöglichkeiten sind die schönsten Möglichkeiten.“
Also freuen wir uns auf die Möglichkeiten, akzeptieren wir so gelassen wie machbar die Unmöglichkeiten, lassen wir manchmal den Frust ab (im Wald – allein), bleiben wir zuversichtlich und gesund und genießen alles was auch jetzt Freude macht. Davon gibt es nämlich noch immer eine ganze Menge!
Mit herzlichen Grüßen
Bettina Barnay
Buchtipp: „Unmöglichkeiten sind die schönsten Möglichkeiten“
Aufgezeichnet von Sabine M. Gruber, erschienen im Residenzverlag
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
Es ist Zeit für Geständnisse?
Nun denn. Dann darf ich meine Sozialisierung in musikalischen und philosophischen Angelegenheiten auch nicht schuldig bleiben. Zuerst zur Musik. Meine frühkindliche Prägung beschränkt sich im Wesentlichen auf die sonntäglichen Gottesdienste und den vielstimmigen Chor der Gläubigen. Manchmal hatten wir Glück. Dann stand eine ältliche Dame in der Reihe vor uns. Sie trug ein strenges Kostüm, aber ein kesses Hütchen. Offenkundig trauerte sie einer Karriere als Opernsoubrette nach. Das tat sie lautstark. Sie trieb die Andacht in ungeahnte Höhen. Mir brachte das väterliche Knüffe ein, weil ich ausgerechnet in Gesangspausen los zu prusten pflegte. An anderen Sonntag lauschte ich staunend der profunden Stimme meines Vaters. Mein Vater sang wie in Nebelhorn.
Solcherart vorgebildet betrat ich in zarten Jahren das Musikzimmer des Kollegiums Mehrerau. Hier herrschte Pater Robert Baumkirchner, ein Oberösterreicher von olympischen Ausmaßen. Aus wenigstens zwei Metern Höhe und mit der ganzen Inbrunst seiner gut 150 Kilo Lebendgewicht suchte er den kleinen Schädeln die Feinheiten von Violin- und Bassschlüssel einzubläuen. Er dachte in Tonleitern, wir an die Sprossenwand. Er sagte „Harnoncourt“, und uns stand drohend die nächste Französisch-Schularbeit vor Augen. Nikolaus Harnoncourt war damals übrigens noch jung und dirigierte erst seit wenigen Jahren das Amsterdamer Concertgebouw-Orchester. Er produzierte gerade jene Sprachbilder, die Sabine M. Gruber dann 2003 ihrem Buch „Unmöglichkeiten sind die schönsten Möglichkeiten“ anvertraute. Bettina Barnay hatte im vergangenen Brief danach gefragt, Sie erinnern sich?
Pater Robert war Realist. Er sah die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens klar, wir auch, aber das führte erst in der Oberstufe zur ersehnten Verbrüderung: „Wisst’s was, geh’n ma a Bier trinken!“ Davor litten wir gehörig, im Unterricht, im Knabenchor. Dabei war er ein feines Haus. Als ich eines Tages in seiner Klosterzelle etwas abholen musste und in seiner privaten Plattensammlung Franz Zappa erspähte, hob das sein Ansehen ungemein. Was aber die höhere Musiklehre anlangt, entsprach ich mehr einem Zitat von Flann O’Brien: „Und er überließ das fragende Oval seines Gesichtes der allgemeinen Betrachtung…“
So hab ich’s in musikalischen Angelegenheiten nie zu mehr gebracht als zum reinen Konsumenten: Von Vorwissen weitgehend unbelastet sitz ich im Konzert. Und freu mich. Meistens jedenfalls.
Die Philosophie ereilte uns erst in der Siebten. Jostein Gaarder hatte „Sophies Welt“ noch nicht geschrieben. Man hielt Philosophie in jüngeren Jahren für aussichtslos. Es war so schon schwer genug. Zum Unterricht schritt Abt Kassian Lauterer persönlich. „Ihr sollt Eure Perlen nicht vor die Säue werfen“ – Martin Luther hat eine Stelle bei Matthäus so übersetzt. Im vorherrschenden Fall mussten wir dem Zisterzienserorden dankbar sein, dass er von dieser goldenen Devise abwich. Wir hatten ja keine Ahnung, was uns da entgegen perlte. Die wenigen besonders hellen Köpfe verbanden mit Philosophie das Wort „symposion“ als eine Art immerwährendes Saufgelage, das erfüllte unsere adoleszenten Herzen mit vager Vorfreude.
Freundlich und ein wenig zerstreut betrat der Abt das Klassenzimmer. Er grüßte und schrieb sodann mit Kreide und Schwung einen Satz an die Tafel: „Philosophia ancilla theologiae.“ Dann nahm er auf dem Katheder Platz. „Philosophie ist die Magd der Theologie.“ So viel Latein hatten wir inzwischen intus. Augenblicklich erhob sich der Chor der Speichellecker, der begeistert Zustimmung heuchelte. Einzelne kritzelten den Satz vorsorglich ins Heft, um ihn später auswendig zu lernen. Der Abt indes schwieg. Belustigt ordnete er die Charaktere, die sich ihm darboten. Dann schritt er zur Tafel und löschte die Wörter wieder weg. Verblüffung. Schweigen. Zufrieden besah er die Verwirrung, die er angerichtet hatte. Er hatte ja nie vorgehabt, mit uns Scholastik zu betreiben, sondern eben wirklich Philosophie. Und die ist niemandes Magd. Thomas von Aquin und Petrus Damiani, dem dieser Satz zugeschrieben wird, würden schon noch ihren Platz erhalten. Aber alles zu seiner Zeit. Erst waren die Griechen an der Reihe. Die Vorsokratiker. Und mit ihnen eine erste Ahnung vom Prinzip der Welt. Dafür muss man erst die Köpfe leerfegen, von Vorurteilen und Plattitüden befreien. Der Abt nahm eine Prise Schnupftabak aus der Tabatiere, dann ein großes Schnupftuch zur Hilfe. Wir staunten. Das war also die erste Lektion. Wir haben ihn dann ziemlich vergöttert.
Auch mein mathematisches Verständnis blieb bis heute überschaubar, und wenn man mich gefragt hätte, wäre ich bevorzugt am Zeichenbrett sitzen geblieben oder in der Bibliothek. Und doch bin ich froh, dass mir diese Wahl nicht offenstand. Das Gymnasium war vermutlich der letzte Ort, an dem mir die Welt noch als Ganzes zu Füßen lag. Später verengen ja Spezialisierungen unseren Blick. Wir sind dann Architekten und Anwälte, Facharbeiter und Handwerker. Der Alltag frisst uns auf. Und wenn die Lust am Neuen eines Tages ganz erlischt, dann tragen wir leise den vielleicht prägendsten Bauteil der menschlichen Existenz zu Grabe: Unsere Neugier. Gesät wird sie im Elternhaus. Geweckt und gehegt in der Schule. Dann erblüht sie in einem Menschenleben.
Das Montagsforum steckt voller Menschen, die sich ihre Neugier bewahrt haben. Das macht die Arbeit so beglückend.
Und das Rätsel? Die Literaturempfehlung. Ja, richtig! Da fällt mein Blick auf einen Doppelband, den ich mir im Lockdown beim Buchhändler meines Vertrauens geleistet habe. Er enthält alle Kolumnen, die Harry Rowohlt für die „Zeit“ geschrieben hat, aber auch Aufsätze, Kritiken, Gespräche. Harry Rowohlt hat so begnadet irische Literatur ins Deutsche übersetzt, dass in einem Cartoon von Hauck & Baur ein Buchhandlungskunde zum anderen sagt: „Das Buch musst Du in der Übersetzung von Harry Rowohlt lesen. Im Original geht da viel verloren.“
Wie aber hieß Rowohlts Kolumne in der Zeit? Sie trug einen bemerkenswerten Titel…
Also dann: Bleiben Sie neugierig,
und bleiben Sie gesund,
herzlichst
Ihr Thomas Matt
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
Frisch getestet (negativ), die Nase läuft auch nicht mehr, halt nur noch ein bisschen wegen der Kälte. „Heast bist du deppat is des koid!“ höre ich aus Wien, stimmt. Aber nicht jammern, ran an die Tasten:
Womit soll ich beginnen? Mit dem Rosenmontag, der sich heuer so ganz anders präsentiert als in den vergangenen Jahren? Oder doch lieber mit Harry Rowohlt und dessen Kolumne in der ZEIT „Pooh´s Corner“?
Danke Thomas Matt für die Frage danach und die Erinnerung daran, ich hab die Gesamtausgabe schon bei der Buchhändlerin meines Vertrauens gekauft und jetzt steht einer der Bände auf meinem Nachtkästchen, der andere liegt auf dem Couchtisch. Allzeit bereit quasi.
Harry Rowohlt hat dem „Bär von geringem Verstand“, der namengebend für Rowohlts Kolumnen war, auch die Stimme geliehen. In einem der schönsten Hörbücher die ich kenne: „Pu der Bär“.
Rowohlt hat nicht nur für die Übersetzung des Originaltextes gesorgt, er hat das Werk auch eingelesen. Und wie! Wenn ich jetzt „süffig“ schreibe, dann hat das nichts mit Harry Rowohlts Hang zu Hochprozentigem zu tun, sondern mit seiner Lese-, nein Erzählgeschwindigkeit. Rowohlt LIEST das Buch (scheinbar) nicht, er erzählt es. Deswegen klingt es so…, ja einfach süffig. Um Ernst Jandl, aus dem Zusammenhang gerissen, zu zitieren: es „tröpfelt in die Ohren“. Kennen Sie Jandls Gedicht „Ohren im Konzert“?
Nein, ich denke jetzt nicht darüber nach wie lange meine Ohren schon nicht mehr in einem Konzert waren, lieber weiter an Rowohlts unvergleichliche Stimme.
Kinder, denen die Eigenschaft zuzuhören noch nicht abhandengekommen ist, lauschen den Geschichten von Pu dem Bären und seinen Freunden gebannt. Wir Großen, die das Kind in uns noch nicht verloren haben, sitzen schmunzelnd genießend dabei und freuen uns nicht nur über den Text, sondern auch und im Speziellen über die Art und Weise wie Rowohlt den Protagonisten sprachliche Besonderheiten schenkt. Ach die Oile- wie er die reden lässt: hinreißend!
Nun aber zum Rosenmontag.
Oder, nein, warten Sie: ich muss Ihnen noch das Buch ans Herz legen, das vor „POOH´S CORNER“ auf meinem Nachtkästchen lag: Karl-Markus Gauß´ „Die unaufhörliche Wanderung“. Ich war mit Gauß in Venedig, bin mit ihm durch Salzburg spaziert und habe mich von ihm fassungslos zum größten Truppenübungsplatz in Mitteleuropa begleiten lassen, literarisch natürlich. Gauß gehört für mich auch zu den Autoren, die so schreiben, als würden sie einem die Geschichte erzählen. Das mag ich. Also: heiße Empfehlung Nummer 2!
Apropos heiße Empfehlung: wie heißt denn der Koch, der 1989 vom Gault-Millau zum Koch des Jahrhunderts ernannt wurde, der Wegbereiter der Nouvelle Cuisine war, dessen Restaurant L’Auberge du Pont de Collonges 54 Jahre lang, ohne Unterbrechung, mit drei Michelin Sternen ausgezeichnet worden ist?
Was Kulinarisches im Rätselteil zwischen Philosophischem oder Musikalischem kann auch nicht schaden. Vielleicht schlägt sich das dann in der Wahl Ihres heutigen Menüs nieder. Zuerst ein Coq au vin, dann eine Mousse au chocolat nach den Rezepten des Meisters.
Bliebe nur noch der Rosenmontag, empathische Leser*innen ahnen es bereits, das wird irgendwie nix mehr mit einem literarischen Exkurs zu diesem Thema. Sie ahnen es, Fasching ist nicht meine Lieblingsjahreszeit, deswegen geht er mir heuer nicht ab. Maskiert sind wir eh dauernd, bei der Kälte hat man auch automatisch eine rote Nase, das muss genügen.
Vielleicht ist Thomas Matt der überzeugtere Faschingsnarr als ich, aber wenn er seinen nächsten Montagsimpuls verfasst ist schon Fastenzeit.
Tja – dann vielleicht nächstes Jahr. Mit den „Vielleichts“ haben wir ja in den letzten Monaten zu leben gelernt.
Eine Weisheit von Pu dem Bären möchte ich Ihnen abschließend noch mitgeben:
„Eine kleine Überlegung, ein kleiner Gedanke an andere, macht den ganzen Unterschied aus.“
Wir denken an Sie und haben schöne und spannende Ideen für die Zeit nach dem großen Vielleicht.
Und schon jetzt: sehr herzliche Grüße
Bettina Barnay
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums!
Uns, die wir seit Aschermittwoch über wässriger Kohlsuppe brüten,
uns, deren flackernde Blicke in immer kürzeren Abständen die Ödnis unserer Kühlschränke nach Essbarem abtasten,
uns, die wir schon wenigstens drei Gramm verloren haben und völlig vergeistigt dieses Nichts im Spiegel betrachten,
uns Darbenden und Fastenden mit Paul Bocuse zu kommen, das war,
verehrte Bettina Barnay, perfide. Ach was, „abgefeimt“ möchte man schreiben, wenn nicht gar laut und vernehmlich „hundsgemein“ rufen, wie so ein stattlicher Vertreter des Ordens der Paulaner Mönche das getan hätte, die im 17. Jahrhundert in München für die Fastenzeit die Tradition des äußerst nahrhaften Starkbiers begründeten. (Die haben’s gut, die Münchner!) Aber es ruft ja schon gar nicht mehr, es säuselt nur mehr kaum hörbar, man ist ja bereits viel zu schwach … ☺
Mit Paul Bocuse stellt uns Bettina Barnay nicht nur den Koch des Jahrhunderts vor Augen, wie ihn Gault-Millau ab 1989 betitelte. Der Maître der Nouvelle Cuisine war außerdem ein beherzter Gegner jenes Minimalismus, der Gäste mitunter quälend lange auf den weißen Porzellantellern nach der gereichten Speise suchen lässt. Nein, Ameisenkeulen auf Schnittlauchsalat kam ihm nicht aus der Küche. Die musste regional, frisch und einfach sein. In seiner L’Auberge du Pont de Collonges nahe Lyon soll es mitunter durchaus auch deftig zugegangen sein. Als er dann mit 91 Jahren die Niederungen irdischer Gelüste für immer verließ, nahmen 1500 Chefköche aus aller Welt von ihm Abschied. Die Orgel in der Kathedrale von Lyon intonierte sein Lieblingslied: „Edith Piafs „Non, je ne regrette rien“ (Nein, ich bereue nichts). Da hatte er in seiner Autobiografie bereits wissen lassen, dass er sein Leben mit drei Frauen gleichzeitig geteilt hat.
Wie gesagt, er wurde 91.
Aber ich nehme die Herausforderung an. Ein wenig zittrig, aber doch entschlossen, klaube ich den Fehdehandschuh in Form eines Topflappens vom Boden und suche nach geeigneter Entgegnung. Kurz streift meine Erinnerung an Carmen Posadas an. Aber in ihrem 1998 erschienenen Roman „Pequeñas infamias“ (Kleine Infamien) bleibt die Küche kalt. Die Autorin aus Montevideo hat Chefkoch Néstor Chaffino gleich eingangs der 280 Seiten bei minus 30 Grad mit steif gefrorenem Zwirbelbart in seine eigene Kühlkammer gestellt. Was einzig fehlt, ist ein kleines Notizheft, dessen Inhalt dem Roman den Titel gab, und was folgt, ist eine hinreißend bissige Gesellschaftskomödie im Gewand eines klassischen Kriminalromans. Herrlich zu lesen, aber es genügt noch nicht. Nicht für Bocuse. Also greife ich nach einem schmalen Büchlein, das als Nr. 1267 im Jahr 2006 im Insel-Verlag erschienen ist. Der darin von Otto Weinreich ins Deutsche übertragene Text ist viel älter. Geschrieben hat ihn ein gewisser Titus Petronius Arbiter. Er tat das zur Zeit Kaiser Neros und folglich in Latein. Tacitus hat ihn beschrieben, wenngleich als „Lurch aus Neros Gefolge“ wenig schmeichelhaft.
Vielleicht erinnert Sie der Name Petronius an den großen Peter Ustinov in der Rolle des Kaisers Nero. Im Hollywoodstreifen „Quo Vadis“ erfährt er vom Tod des Petronius. Unvergesslich, wie er sich ein winziges Glasfläschchen ans Augenlid hält und weinerlich verkündet: „Eine Träne für Petronius!“ Mit dem Adeligen verlor er immerhin seinen obersten Geschmacksberater. Petronius war „Arbiter Elegantiae“, Schiedsrichter des feinen Geschmacks. Und er war ein begnadeter Spötter, das vor allem.
Von seinem Werk Satyricon, das in der Renaissance wiederentdeckt wurde, ist nur wenig erhalten. Aber die längste überlieferte Episode, das „Gast des Trimalchio“, die hat’s in sich. Es ist dies die Geschichte eines ehemaligen Sklaven, der es nach seiner Freilassung zu so viel Reichtum gebracht hat, dass er den Landsitz seines inzwischen verstorbenen ehemaligen Besitzers erwirbt und fortan in dem Haus zu Tisch liegt, in dem er vor kurzem noch bedient hat. Ein Neureicher also, ein Emporkömmling, der jetzt mit Verwalter und Knechten und Vieh den Landedelmann spielt. Und den die Gesellschaft im Leben nie anerkennen wird. Also sucht er sie zu beeindrucken. Und weil es damals weder Fernsehen noch Internet gab, lädt dieser Trimalchio eben Gäste ein. Der Rest ist Geschwätz und Irrwitz, ein pralles, grelles Porträt einer Gesellschaft, deren Reiche in solchem Überfluss lebten, dass das Wort Dekadenz wie eine hilflose Untertreibung verlischt. Ein derber Text, denn Petronius beherrscht das Vulgärlatein wie kein Zweiter. Vor allem aber gewährt er uns Einblicke in eine Küche, die an sich selber irre wird: Da werden Haselmäuse, die mit Honig und Mohn bestreut wurden, gereicht, aus Teig geformte Pfaueneier, die fette Feigenschnepfen in sich bergen, einem gebratenen Wildschwein entweicht zum Gaudium der Gäste ein Schwarm Drosseln…
Genug? Genug. Wer es sich zutraut, der lese dieses Sittengemälde und wird seine Freude daran haben, wie unverschämt uns der Höfling Petronius wie durch ein Zeitfenster die Gesellschaft der Emporkömmlinge vor beinah 2000 Jahren belauschen lässt. Auch die kulinarischen Extravaganzen verfehlen ihre Wirkung nicht. Geradezu geläutert kehren wir zur Kohlsuppe zurück.
P.s.: Das „Gastmahl des Trimalchio“ wurde übrigen 1969 verfilmt, von einem römischen Regisseur natürlich. Sie kennen bestimmt seinen Namen.
Bleiben Sie neugierig und vor allem gesund,
herzlichst,
Ihr Thomas Matt
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
es beginnt ja schon damit, dass sich das Computerprogramm über mich erhebt und den Einser vom 1. März auf diesem Blatt einrücken will. Das Programm geht davon aus, dass auf
- unweigerlich
- folgen wird.
Was ja grundsätzlich oft richtig ist.
Im konkreten Fall aber folgt auf 1. einfach nur März und es wäre extrem angenehm, wenn mein Computer tun würde was ich will und ja ich weiß, es gibt Computergrundkurse.
Ach was waren das noch für Zeiten, als wir auf der Schreibmaschine vollkommen ungehindert 1. März schreiben konnten. Und dann – RATSCH – in die nächste Zeile und los gings.
Mir wird allerdings heute noch übel, wenn ich daran denke mit welchen Worten mir mein Professor in Salzburg die Diplomarbeit am Ende meines Studiums zurückgegeben hat: „An sich nicht schlecht, aber leider haben Sie das Wort Rhythmus konsequent falsch geschrieben.“
Besagtes Wort kam auf jeder Seite mindestens einmal vor und wurde damals noch mit nur einem h geschrieben. Ich hatte deren 2 eingebaut. Eine Visionärin war ich, aber das hat mir 1986 herzlich wenig genutzt. Weitere zehn Jahre mussten vergehen, bis erkannt wurde, dass Rhythmus einfach besser ausschaut als Rythmus. Sie erinnern sich? 1996: Rechtschreibreform, wir kommen später noch einmal auf das Thema zurück.
Mit dem Computer ist die Verbesserung heute kein Problem mehr, da lässt sich ein falsches Wort mit ein paar Mausklicks einfach und schnell austauschen, aber der hatte damals noch nicht Eingang in mein Leben gefunden. Blöd gelaufen, alles auf Anfang: weißes Blatt, Kohlepapier, weißes Blatt, den Packen ordentlich einspannen und jetzt bloß keinen Fehler mehr machen.
Es gibt einen Komponisten, der ein Musikstück geschrieben hat, das mit den akustischen Eigenschaften der alten Schreibmaschinen spielt. Im Oktober 1950 hat er das getan. Wer will kann dies als Frage zum Tage nehmen, wer nicht will…alles gut.
Oder wie Federico Fellini gesagt hätte: tutto bene.
Folgen wir ihm doch, angeregt von Thomas Matts Frage vom vergangenen Montag, kurz auf seinem Weg.
Versinken wir für einen Moment in den Augen seiner Frau Giulietta Masina.
Wünschen wir uns den Zampanò herbei, der die Corona-Ketten sprengt, die unseren Brustkorb umschließen.
Der Zampanò, auch wenn wir ihn heute meist ohne den Accent über dem o schreiben, hat es vom Film „La Strada“ rausgeschafft in die Sprachwelt. Kaum einer, der heute noch Anthony Quinn vor Augen hat, wenn er von einem Zampano spricht. Schade eigentlich. Man würde den Begriff weniger inflationär verwenden: „Bernie Ecclestone der große Zampano der Formel 1!“……….pfffff….
Ecclestone gegen Anthony Quinn? Chancenlos in jeder Hinsicht, Ecclestone hat nur mehr Geld als Quinn je hatte, Quinn dafür mehr Kinder. Also, wer ist da der größere Zampanò?
Der frühere Maschinenbaustudent Freddy Breck hat im Jahr 1975 versucht, seinen eigenen Zampano berühmt zu machen. Er hat das Genre Schlager dazu verwendet und singt:
„Denn wohin der Wind uns weht,
und wohin die Reise geht,
weiß allein der große Zampano,
denn er bestimmt das sowieso…“
Keine Angst, das konnte ich nicht auswendig, youtube hat es mir vorgespielt, samt klatschendem Publikum im Hintergrund. Die Versuchung, den Texter dieses Schlagers posthum zu verklagen ist groß. Wer „sowieso“ als Reimwort für „Zampano“ verwendet, sollte zwei Wochen lang Ameisenkeulen auf Schnittlauchsalat essen müssen. Ausschließlich. Danke Thomas Matt für diesen Menüvorschlag. Loriot hätte seine helle Freude daran gehabt und sie als Amuse gueule vor seinem Nilpferd in Burgunder gereicht.
Aber ich soll ja nicht vom Essen schreiben in der Fastenzeit, also gut:
Dann schauen wir uns noch einmal den Original-Zampanò an. Jene Szene, in der er versucht Gelsomina beizubringen, wie sie ihn bei seinen Auftritten anzukündigen hat: Trommelwirbel und dann: „É arrivato Zampanò!“. Gelsomina schafft das nicht. Die Tatsache, dass ihr der große starke Mann mit einer Rute auf die nackten Beine schlägt, trägt nicht dazu bei, dass sie besser wird. Hauen möchte man den großen Zampanò! Wie kann er diesem zierlichen, hinreißenden Wesen wehtun?
Trotzdem: „La Strada“ anschauen, in der Originalfassung. Es ist völlig wurscht, wenn man nicht alles, oder wenig oder gar nichts versteht. Das tut man in Opern auch nicht und trotzdem…. Die Musik zum Film ist übrigens von Nino Rota.
Ein Blick zurück jetzt noch, auf den 1. März 2020. Da habe ich abends Dr. Parzinger vom Zug abgeholt und nach seinem Auftritt bei uns, sein Buch „Abenteuer Archäologie“ an viele meiner Freunde verschenkt. Wir haben noch ein paar Exemplare seines Vortrags auf CD. Wenn Sie interessiert sind: ein kurzes Mail genügt.
In wenigen Wochen können wir Dr. Parzingers neues Werk in den Händen halten: „Verdammt und vernichtet“. Da geht´s um die Zerstörung von Kulturschätzen. Nicht nur im 21. Jahrhundert. Mit diesem Thema steht er schon auf unserer Liste derer, die wir dann…..wenn wir wieder….
Und wenn Sie noch einen Buchtipp für jetzt gleich brauchen: „Die Schlange im Wolfspelz“ von Michael Maar. Maar setzt sich mit Schreibstilen, Metaphern, Syntax, Sprachrhythmen und, und, und großer Autor*innen auseinander. Klingt staubtrocken, ist es mitnichten.
Ist der Mann kritisch! Aber so witzig kritisch und was er alles gelesen hat und wie! Also mit welcher Konzentration und welchen Schlussfolgerungen. Maar hängt übrigens offensichtlich der alten Rechtschreibung nach, er schreibt „daß“ noch mit scharfem s. Das Rechtschreibprogramm zeichnet mir eine rote Welle unter das „daß“, aber Maar darf das.
Übrigens wird mein SUB nicht kleiner. Nein, nicht der SUV, so einen besitze ich nicht. Der SUB ist der „Stapel ungelesener Bücher“. Tsundoku auf Japanisch. Die Autor*innen haben die vergangenen Monate offensichtlich gut genutzt. Das ist ein sehr beruhigendes Gefühl, mit dem ich mich für heute von Ihnen verabschiede.
Bleiben Sie gesund, zuversichtlich und wissbegierig.
Sehr herzliche Grüße
Bettina Barnay
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
das Leben eines Journalisten gelangt eines Tages an den Punkt, an dem ihn zum ersten Mal ein Hauch von Allmacht anweht. Dies geschieht meist früh. Deshalb hat dieses Gefühl auch leichtes Spiel mit dem kindlichen Gemüt. 1983, also drei Jahre, bevor Bettina in penibler Kleinarbeit eine ganze Diplomarbeit lang das Wort „Rhytmus“ liebevoll mit einem zweiten „h“ versah, war es bei mir so weit. Und das kam so.
Es war ein schöner Tag. Ich hatte in der Zeitungsredaktion erfolgreich mit einer Bildunterschrift zum Wasserstand des Bodensees debütiert, nichts schien mehr unmöglich, die Chefredaktion zum Greifen nah. Das übte schon deshalb großen Reiz aus, weil der Chefredakteur über eine elektrische Schreibmaschine mit Kugelkopf verfügte. Ich hatte aus dem Fundus des Hauses ein mechanisches Ungetüm der Marke Adler erhalten. Diese Schreibmaschine war ockerfarben, wog gut und gerne ihre zehn Kilo und trug auf der linken Seite das Abziehbild einer Tänzerin zur Schau. Da das Bild nur mehr schemenhaft vorhanden war wie ein flüchtiger Schatten, blieb die Frage offen, ob die Dame überhaupt und wenn ja, wie raffiniert sie wohl bekleidet war. Ihre Körperhaltung ließ auf akrobatische Qualitäten schließen, der Rest blieb ein erster Appell an meine Phantasie. (Ich schreibe das Wort mit „Ph“, obwohl der Duden das „F“ ch zuließe, aber es geschieht dies gewissermaßen als Referenz an Bettinas schon früh entwickeltes Sprachgefühl).
Wo waren wir? Wir blicken in die Redaktion, richtig. Ich komme eben herein. Trage einen Trenchcoat. Zerknittert, versteht sich. Nuschle ein unbestimmtes „Guten Morgen“ in die Runde und verschwinde in der Kaffeeküche. Wie ein altes Schlachtross kehre ich wenig später mit einer leicht angebrochenen Tasse voller dampfend heißem Kaffee zurück und nestle auf dem Weg zu meinem Schreibtisch eine Zigarette aus dem Sakko. Es existieren Fotos aus dieser Zeit. Sie zeigen einen Gymnasiasten, der Journalist spielt im Schultheater. Aber ich sah das anders. Ich war restlos überzeugt von mir, nur das zählt.
Sehen Sie’s? Wie ich den Bogen Layoutpapier aus der Schublade ziehe und in die Maschine einspanne? Sehen Sie die Zigarette im Mundwinkel? Den eleganten Schwung, mit dem die Finger der linken Hand den Wagen der Schreibmaschine ganz nach rechts befördern? Können Sie es sehen? Sieht das nicht klasse aus? Wäre das nicht der rechte Moment, um Leroy Andersons herrliches Musikstück „the typewriter“ einzuspielen? (Bettina hatte danach gefragt, Sie erinnern sich.) Und da sitz ich nun also mit übereinander geschlagenen Beinen am Puls der Zeit und hebe die Finger wie ein Dirigent vor dem ersten Einsatz, lasse sie niedersausen – einzeln nach dem „Adler-such-System“ – und es geschieht … nichts. Die Typenhebel hämmern wie wild aufs Papier, aber sie hinterlassen nicht die geringste Spur. Dabei harrt eine Jahreshauptversammlung ihrer Verewigung. Aber es geschieht … nichts. Ich springe auf. Verlasse die Wallstatt. Rufe im Entschwinden – bestimmt zu einem wichtigen Termin – der Sekretärin noch zu, man möge das Schreibgerät schleunigst instand setzen. Ich sage es nicht, aber meine Stimme verrät: Viel hängt davon ab, eigentlich alles.
Eine Stunde später steh’ ich dann abermals hier. Die Sekretärin hat mir in einfachen deutschen Sätzen (Subjekt und Prädikat) soeben erklärt, dass die Schreibmaschinentechniker unverrichteter Dinge wieder abgezogen sind. Das Teil war gar nicht kaputt. Ich hatte lediglich aus Versehen jenen kleinen Kipphebel betätigt, der das Farbband ruhend stellt. Die Sätze hallen in mir nach. Ich kann sie noch nicht richtig einordnen. Die Techniker hätten 50 S-c-h-i-l-l-i-n-g verlangt für ihren Einsatz. Die Sekretärin dehnt die Wörter in die Länge und sagt sie in einer Lautstärke, dass das ganze Großraumbüro belustigt zuhört.
Würde man jetzt „the typewriter“ unterlegen, ich hätte das passende Gesicht dazu: Ich sähe aus wie Jerry Lewis, der die Melodie im gleichnamigen Sketch berühmt gemacht hat.
So ist das mit der Allmacht. Sie ist „a Vogerl“, unsteten Charakters. Mit etwas Glück wird sie früh erschüttert. Dann gerät man nie in Verlegenheit, den großen Zampano geben zu wollen. Stattdessen geht man scheu und respektvoll mit den Gelsominas dieser Welt um, möchte auch nicht angekündigt werden – schon gar nicht mit Trommelwirbel – und würde niemandem auf die nackten Beine schlagen, um des Effektes willen.
Mit „La Strada“ schuf Fellini wohl einen der anrührendsten Filme, die je gedreht wurden. Allein die Musik… Für die Erinnerung danke ich Bettina sehr! Und jetzt stünden da viele Wege offen, die aus diesem Brief herausführten und ihn zu einem guten Ende brächten. Bettina hat sie vorgezeichnet. Ich könnte mich von Anthony Quinn als Zampano über Anthony Quinn als Papst Kyrill in den Schuhen des Fischers bis zu Anthony Quinn als Alexis Sorbas empor hangeln und dabei anmerken, dass die Sirtaki-Szene vorzüglich in pandemische Zeiten passt. Oder ich gäbe Leroy Anderson noch einmal die Ehre, schließlich hat er die erste Instrumentalaufnahme komponiert, die sich eine Million Mal verkauft hat. Nein, das war nicht „the typewriter“, es war „blue tango“. Aber dies ist ein ziemlich domestizierter Tango, einer für höhere Töchter, die gelangweilt ohne den opulenten Klangteppich der Streicher ihre schlanken Fesseln nicht einmal anzuspannen pflegen. Keine Spur jener verruchten Hitze, die noch heute in den Straßen von San Telmo in Buenos Aires brütet und sie zur Bühne macht für kopfloses Begehren, Trunkenheit und all die anderen verwandten Verrücktheiten der menschlichen Existenz.
„Por una cabeza“ wäre so ein Tango, wie ihn Carlos Gardel 1935 der Welt geschenkt hat. Knapp 60 Jahre später tanzte Al Pacino dazu im US-amerikanischen Filmdrama „Der Duft der Frauen“ als blinder Gentleman mit einer bezaubernden jungen Frau seinem einzigen Oscar entgegen. Por una cabeza – „für einen Kopf“ – ist das nicht ein seltsamer Titel? Wissen Sie, worum es sich dabei handelt? Blättern Sie’s nach. Sie werden staunen…
Damit soll es für heute genug sein. Ich kehre wieder in mein Homeoffice zurück, dabei fällt mein Blick auf das Buch „Heimarbeit“, das Barbara Motter und Barbara Grabherr-Schneider 2019 geschrieben haben. Im Stadtmuseum Dornbirn verkaufen sie auch heute noch die gesammelten Objekte und Erinnerungen an das „Wirtschaftswunder am Küchentisch“. Ob eine Neuauflage irgendwann den Bildern von Schere und Stickrahmen wohl die Fotos von Laptop und Handy aus den 2020er Jahren beifügt?
Bleiben Sie uns gewogen, neugierig und vor allem gesund!
Herzlichst,
Ihr Thomas Matt
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
Es ist schon sehr erstaunlich welch unterschiedliche Anmutung die Worte „Heimarbeit“ und „Homeoffice“ haben.
Homeoffice ist modern, wir schlagen uns seit einem Jahr damit herum, da muss nichts mehr dazu geschrieben werden.
Heimarbeit aber impliziert Bilder von Frauen, die am Küchentisch oder im Schlafzimmer Klöppelspitzenstreifen zu Vorhängen zusammennähen, Scharniere zusammenstecken, kleine Steine auf Stoffen fixieren („Stöala“ nennt man das), Juppenleibchen besticken, etc. und das ganze überwiegend in der Nacht. Tagsüber musste der Haushalt gemacht und die Kinder versorgt werden.
Wussten Sie, dass die Vorhänge im Metropolitan Museum in New York von einer Bregenzerwälder Heimarbeiterin gefertigt worden sind? Anna Reichetzeder hieß sie. In der Hofburg in Wien hingen bis vor einigen Jahren auch Vorhänge aus Krumbach.
Danke Thomas Matt für den Impuls, wieder einmal über diese unglaublichen Frauen nachzudenken: die Heimarbeiterinnen der späten Fünfziger- und Sechzigerjahre, die maßgeblich mitgewirkt haben am Wirtschaftswunder und die damals noch, glaubt man den Zeitzeuginnen, sehr anständig bezahlt wurden für ihre Arbeit.
Heimarbeit – wenn ich das überhaupt so nennen darf – ganz anderer Natur haben Renate Erhard und ich am vergangenen Donnerstag sehen, spüren und begreifen dürfen: wir waren im Atelier von Ilse Konrad in Bregenz. Einige von Ihnen werden die Künstlerin kennen, sie ist seit vielen Jahren „eine von uns“, also Abonnentin des Montagsforums.
Frau Konrads Atelier ist gleichzeitig auch ihre Wohnung und ihr Ausstellungsraum. Bis Ende April kann man sie in der Brandgasse in Bregenz besuchen und sich einen Eindruck verschaffen vom Werk der Vielgereisten. Den Skizzenblock hat sie immer dabei. Das Material mit dem sie arbeitet beinhaltet oft Spuren der Natur von der sie sich inspirieren lässt: Wüstensand zum Beispiel. An einer Wand in ihrer Wohnung hängt eine Weltkarte. Stecknadeln markieren die Orte an denen sie schon war. Es sind viele Stecknadeln, besonders in Afrika. Die Bilder, die während oder nach den Reisen auf diesen Kontinent entstanden sind atmen die Farben die man mit dem jeweiligen Land assoziiert.
Die Naturmaterialien: Sand, gemahlene Steine und Erde vermischt sie mit …. Nein, das soll Ihnen Ilse Konrad bitte selber erzählen, wenn Sie sie besuchen. Acryl kommt ihr jedenfalls nicht ins Haus, ihre Farben und Farbmischungen sind einzigartig.
Dass die gebürtige Wienerin begeisterte Vorarlbergerin ist, beweisen ihre Bilder von der Bregenzer Oberstadt oder dem Bodensee. Oder Ihre „Moorbilder“, mit echtem Moor aus Reuthe im Bregenzerwald. Ihre Techniken sind so mannigfaltig wie ihre Materialien. Notenblätter ihres Großvaters hat sie übermalt, das Musikerherz blutet ein bisschen, der Augenmensch freut sich über diese gelungene Symbiose aus Malerei und Musik. Tönende Farben quasi.
Auf einer der Skizzen, mit der sie eine Ägyptenreise auch uns zugänglich macht, steht folgender Satz: „Die LIEBE ist in meinem Herzen wie das Schilfrohr in den ARMEN des Windes.“ Jede einzelne dieser Skizzen würde ich daheim aufhängen, hätte ich noch Platz dafür.
Der Platz in Ilse Konrads Wohnungs-Atelier wird auch knapp, jetzt darf schon die Zimmerdecke als Ausstellungsfläche herhalten. Man legt den Kopf in den Nacken und ist schon wieder in einer anderen Welt. Faszinierend!
Oder die Pinselzeichnungen der Dogon-Tänzer aus Mali… Ja doch, vielleicht hänge ich meine Bilder um und schaffe Platz für eines dieser Bilder. Da sind es die Farben und die Bewegung in den Skizzen, die den Wunsch in mir wecken mindestens eines, lieber eine ganze Serie aufzuhängen.
Aber einstweilen begnüge ich mich mit dem Buch
Ilse F. Konrad
LINIEN
Lebens – Linien
Da sind viele ihrer Bilder drin. Die Qualität des Druckes, der Farben ist hervorragend. Schauen Sie sich die Buchübermalungen an, mit deren Hilfe Ilse Konrad die Erinnerungen an ihre Indien Reise verbildlicht hat, ab Seite 52 finden sie die. Ilse Konrads verstorbener Mann hat einmal gesagt, sie habe ihre Skizzen schneller gemacht als er ein Foto.
Nun ist Geschwindigkeit in der Kunst wahrlich kein Qualitätskriterium, aber das imponiert mir trotzdem.
Wenn Sie das Buch interessiert, oder ein Besuch im Wohnungs-Atelier der Künstlerin, lassen Sie es uns wissen. Wir stellen den Kontakt mit Frau Konrad gerne her.
Das Buch kostet € 20,- ein persönliches Treffen mit Ilse Konrad ist sehr empfehlenswert, sie erzählt so lebhaft und begeistert von ihren Reisen und ihrer Arbeit. Grad jetzt tut das richtig gut.
Renate Erhard und ich haben uns brav an die Maskenpflicht gehalten und auf das gemeinsame Gläsle verzichtet. Aber es war auch sicher nicht unser letzter Besuch in der Brandgasse, denn mit einem Mal kann man die Fülle der Eindrücke gar nicht verarbeiten.
Und jetzt noch ein kleiner Nachsatz: vor dem Besuch bei Ilse Konrad hatte ich den Montagsbrief schon fertig und natürlich ging es darin auch um das, von Thomas Matt angesprochene Lied „Por una cabeza“ und damit um einen Pferdekopf, respektive um Lieder, die man lieber mag solange man den Text nicht versteht. Das kommt halt jetzt ein anderes Mal, Begeisterung teilt sich am besten wenn sie noch ganz frisch ist.
Eine Woche mit erfreulichen Eindrücken und dazu Gesundheit und Optimismus. Das wünsch ich Ihnen!
Herzliche Grüße
Bettina Barnay
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
„Sehen, spüren und begreifen dürfen“? Na, da könnte man vor Neid erblassen ob dieses analogen Hochfestes! Ich seh sie richtig vor mir, Bettina Barnay und Renate Erhard, wie sie durch Ilse Konrads Atelier streifen, staunend, vielleicht ein wenig scheu noch – man ist ja solcher Unmittelbarkeit regelrecht entwöhnt. Lassen sich gehorsam von der Künstlerin über deren Landkarte führen, immer den Nadeln entlang, die besuchte Orte markieren, und werfen endlich den Kopf in den Nacken, um auch die Ausstellungsfläche über ihren Häuptern zu entdecken.
Ein Augenblick, wie er sich jenseits der Schweizer Grenze alle Nase lang aufs Köstlichste wiederholt. Dann nämlich, wenn das bunte Gemenge aus fernöstlichen Touristen, Schulklassen und Wandervögeln in die St. Galler Stiftsbibliothek quillt und nach vor drängelt, denn da ist der Abrogans und dort liegen die Tuotilo-Tafeln und dahinter im gläsernen Kasten, da schlummert die Mumie wie ein reichlich in die Jahre gekommenes Schneewittchen. Und verlässlich bleibt jedes Mal einer zurück, derjenige, der – vielleicht versehentlich – die Augen hob von den schon im Internet angekündigten Kostbarkeiten und der ganz unglaublichen Decke gewahr wird.
Steht dann da wie ein Fleisch gewordenes Verkehrshindernis, zur Säule erstarrt, inmitten der „In-15-Minuten-fährt-der-Bus-Gruppen“, dehnt den Kopf in den Nacken und staunt. Später dann wird er zuhause nachlesen, dass er in den Deckengemälden die vier ersten ökumenischen Konzilien gesehen hat (Nizäa 325, Konstantinopel 381, Ephesus 431, Chalcedon 451). Und wenn er ein rechter Bücherwurm ist, wird er blätternd erfahren, dass es in diesen Versammlungen um nichts weniger ging als um die göttliche und menschliche Natur des Jesus Christus, ums Eingemachte der christlichen Religion gewissermaßen. Vielleicht ist er ja noch kirchlich sozialisiert, dann murmelt er wie zur Probe den Anfang des Glaubensbekenntnisses, das in diesem Versammlungen vor 1600 Jahren Gestalt annahm. Und – mit einem äußersten vielleicht versehen – wird er sich fragen, weshalb ein gewisser Josef Wannenmacher in der Hochzeit der Aufklärung ausgerechnet diese Motive gemalt hat.
Ist er aber nicht ganz so wissbegierig, werden sich alsbald andere Bilder jüngerer Ereignisse vor die Bibliothekserinnerung schieben. Übrig bleibt ein Schemen, das noch am deutlichsten die Filzpantoffeln erkennen lässt, die er wie all die anderen Besucher belustigt über den Schuhen trug. Werden in Ilse Konrads Atelier Filzpantoffeln auch ausgegeben? Ich muss bei Gelegenheit nachfragen.
Der Gedanke allein freilich ruft mir in Erinnerung, dass man auch noch aus ganz anderem Zweck die Augen erheben kann und das treibt mir augenblicklich die Schamröte ins Gesicht. Wenn jetzt ein Lächeln um ihre Lippen spielt, dann haben Sie Thomas Hürlimans Roman „Fräulein Stark“ gelesen und den Neffen des Stiftsbibliothekar – „nepos praefecti“ – vor Augen, wie er den Besucherinnen kniend Überzieh-Pantoffeln reicht, auf dass sie Boden-schonend ins Reich der Bücher schlurfen. Dass er dabei die Blicke wandern lässt, führt ihn und die Leserinnen und Leser Seite um Seite auf Abwege, die der Zuger Schriftsteller Hürlimann vermutlich nur deshalb so köstlich in Szene setzt, weil selber die Klosterschule in Einsiedeln besucht hat.
Aber lösen wir uns von diesem barocken Prachtstück in Rufweite, das zwar schon wieder offenhält, aber den Besuchern jenseits der Grenze noch eine (kleine) Weile verwehrt bleibt. Macht nichts, denkt der gelernte Vorarlberger mit einem gewissen Stolz, wir sind ja auch so drüben fest verankert. Schließlich verdanken wir die St. Galler Stiftsbibliothek so wie auch das Rokoko-Juwel Birnau am anderen Ende des Bodensees einem Vorarlberger Baumeister, dessen Namen Sie sicher kennen. Er kam in Bezau zur Welt. Wurde in eine Baumeisterfamilie hinein geboren und hat dann später im süddeutschen Raum die vielleicht bemerkenswertesten Bauten ersonnen und umgesetzt.
Aber was erzähl ich Ihnen! Im Auer Kurathaus nimmt gerade das längste fällige Museum der Barockbaumeister Gestalt an und wird voraussichtlich im Herbst eröffnen. Wäre das nicht ein Ausflug, eine regelrechte Landpartie? Mit kleiner Wanderung und Verweilen in einem schattigen Wirtshausgarten? Ach, es soll Sommer werden!
Bleiben Sie neugierig und gesund!
Herzlichst,
Ihr Thomas Matt
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
so viele Impulse in einem Brief! Ich weiß gar nicht recht wo ich anfangen soll.
Mein erster Gedanke nach der Lektüre des Briefes von Thomas Matt galt St. Gallen. Allerdings habe ich nicht an die Bibliothek gedacht, sondern überlegt, ob es das Café Roggwiller in der Multergasse wohl noch gibt. Unvergessliche Kindheitsmomente habe ich dort verbracht.
Und wenn ja, ob es dann noch so bezaubernd samtig, golden und rosarot ist wie in meiner Erinnerung? Eigentlich hätten da nur frisch ondulierte Damen mit gepuderten Nasen, weißen Lederhandschuhen und Schmetterlingsbrillen hineingepasst.
Meine Mutter hat sich dennoch mit mir in dieses verspiegelte Eldorado gewagt. Himbeersaft gab es für mich und eines dieser Sandwiches, auf denen eine durchsichtige aber essbare Schicht (das Wort Gelee kannte ich damals noch nicht) dafür gesorgt hat, dass das perfekte Zusammenspiel von Schinken, Ei, Spargel und einem Tupfen Mayonnaise nicht verrutschen konnte. Bis ich es dann aß, mit einem silbernen Messerchen und dem dazu gehörigen Gäbelchen. Die Sieben Zwerge hätten ihre rechte Freud gehabt an dem Besteck.
Für meine Mutter gab es übrigens einen großen Braunen und ein Vermicelle. Nichts für mich das Kastanienpüree. Der Kaffeelöffel balancierte auf dem Glas Wasser, nein es war ein Gläschen, um genau zu sein.
Ach ein Ausflug nach St. Gallen, derzeit erscheint er einem in etwa so aufwändig wie die Begehung der tiefsten Doline der Südhalbkugel. Nein, ich frag Sie jetzt nicht wo die ist, dafür sag ich Ihnen, dass der Barockbaumeister nach dem Thomas Matt gefragt hat, Peter Thumb heißt. 1681 wurde er in Bezau geboren, 1766 ist er in Konstanz gestorben, in dieser Stadt hatte er 1725 das Bürgerrecht erhalten, 12 Jahre später wurde er dann sogar Mitglied des „Großen Rats“.
Gerne organisieren wir eine Reise zu einigen seiner schönsten Bauten zwischen Elsass und Bodensee. Dann, wenn wir wieder dürfen. Das Kurathaus in Au besuchen wir natürlich auch. Warum denn in die Ferne schweifen…..
Apropos “Sieh, das Gute liegt so nah“: Um noch die Frage zu beantworten, die Thomas Matt beschäftigt hat: Filzpantoffeln muss man in Ilse Konrads Atelier-Wohnung keine überziehen, da darf man mit Schuhen hinein. Und mit Maske natürlich. Die Resonanz auf unseren Aufruf, Frau Konrad zu besuchen war groß. Das freut uns ebenso wie die Tatsache, dass wir bereits zwei Drittel unseres CD Lagers an die Frau und den Mann gebracht haben. Ihre Großzügigkeit und Spendenbereitschaft haben uns sehr berührt. Danke dafür!
Es gibt noch CDs, die aktualisierte Liste ist angefügt und da steht jetzt auch der Vortrag von Dr. Markus Schlagnitweit drauf. Er war der letzte, den wir noch hören und sehen durften bevor wir, sie wissen eh…
Aktuell ist ein Buch erschienen, das Dr. Schlagnitweit gemeinsam mit der alttestamentlichen Exegetin Dr. Daniela Feichtinger herausgegeben hat: „Was würde Jesus tun?“. So heißt das Buch, das sich mit eben dieser Frage beschäftigt. Auf dem Titelbild: ein Boot mit Geflüchteten und bereits im Vorwort die Erinnerung daran, dass das Gelingen des eigenen Lebens maßgeblich daran hängen sollte, wie wir uns den Notleidenden dieser Welt gegenüber verhalten. Und wenn in vielen Rezensionen des Buches folgender Satz zitiert wird: „Es gibt für Christinnen und Christen auch heute eine moralische Pflicht zu couragiertem Widerstand gegen Gewalt, Unrecht und jede Form von Machtmissbrauch.“, dann möchten die beiden Autoren ganz bestimmt nicht fehlinterpretiert und in einen Topf mit maskenlosen Anti-Corona Demonstrant*innen geworfen werden. Dazu gleich der zweite Buchtipp: „EINSPRUCH“ von Ingrid Brodnig, erschienen im Brandstätter Verlag. Wenn Sie wissen möchten, wie Sie auf Verschwörungsmythen und Fake News wirksam reagieren können, lesen Sie das Buch. Wenn Sie das gar nicht müssen (kontern) gratulieren ich Ihnen herzlich zu Ihrem Freundes- und Familienkreis.
Die Karwoche ist angebrochen und auch wenn sich das Osterfest erneut anders präsentieren und anfühlen wird als vor 2020, unsere Kinder/Enkel*innen wollen beschenkt werden.
Als Osterhasen fürs Gehirn und das Gemüt bieten sich folgende Bücher an:
„Sapiens Der Aufstieg“: Yuval Noah Hararis „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ als Graphic Novel, das Wort „Comic“ würde dem Format nicht gerecht. Wie konnte sich ein so schwaches Tier wie der Mensch den Planeten Erde Untertan machen? Yuval Noah Harari tritt in seinem Buch selbst auf und geht zusammen mit seiner Nichte Zoe diesem Rätsel auf den Grund – mit Hararis unvergleichlichem Witz, viel Charme und einer Menge an schrägen Ideen. Für alle Wissbegierigen ab etwa 10 Jahren.
Theoretisch für Mädchen ab 8 oder so, praktisch aber auch für Buben die kein Problem mit klugen Mädchen haben: „Matilda“ von Roald Dahl. Ein Klassiker und eine hinreißende Geschichte um ein Mädchen, das hochbegabt aber mit ebenso kriminellen wie kriminell dummen Eltern geschlagen ist, und in ihrer Lehrerin ihre Retterin in jeder Beziehung findet.
Auch sehr schön und für Volksschulkinder: „Der Tag, an dem die Oma das Internet kaputt gemacht hat“ von Marc Uwe Kling. Sehr vergnüglich das Buch, auch für die Vorlesenden!
Vielleicht möchten Sie aber auch sich oder andere Erwachsene beschenken.
Für Krimi Fans: Es gibt weitere Übersetzungen aus der „Inspektor Gamache“-Reihe von Louise Penny, Sie erinnern sich? Die Krimis, die im verschlafenen Ort Three Pines in Kanada spielen.
Und für historisch interessierte Damen und Herren: „Ferdinandea“ von Armin Strohmeyr. Im Juli 1831 taucht südlich von Sizilien eine Insel aus dem Mittelmeer auf. Goethe, Humboldt oder der Earl of Grey, sie alle sind fasziniert. Allein, die Insel gibt es nicht lange. Spannend, amüsant, klug und mit interessanten Seitensträngen zur Literatur- und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts.
Ostern kann kommen, der Sommer soll kommen, da stimme ich Thomas Matt zu 100% zu. Nicht nur da.
Ihnen wünsche ich Frohe Ostern, sonnige Stunden, fröhliche Momente, überwiegend gute Laune, immer ein spannendes Buch in Griffweite und Gesundheit!
Herzliche Grüße
Bettina Barnay
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
diese Zeilen schreibe ich mit ölverschmierten Fingern. Die rechte Hand verunziert ein Riss. Ich bin mit dem Schraubenschlüssel abgerutscht. Aber es rührt mich nicht. Vielmehr gehört es zu diesem rituellen Tag wie die Politurflecken auf der Hose und dem Hemd. Meine Gattin hat mir freundlicherweise entsprechende Kleidung herausgesucht. Mit kindlicher Freude habe ich das fadenscheinige Hemd wiedererkannt, das vor zwei Jahren aus meinem Kleiderkasten verschwunden ist. Jetzt leuchtet es in den letzten Strahlen der Abendsonne mit dem roten Lack um die Wette, der aus dem überdachten Abstellplatz hervorlugt. Der den Passanten eben noch lüsterne Blicke entlockte, der sich gehalten über all die Jahrzehnte, der den Frühling einläutet. Jahr für Jahr.
Sie finden das sonderbar? Aber hat nicht jede und jeder von uns ein eigenes kleines Ritual? Das erste Eis in der besten Eisdiele von allen? Oder einen Blick auf die ersten Primeln, den ersten Cappuccino in einer Fußgängerzone? Es sind ja unscheinbare Dinge, von denen hier die Rede ist. Aber alle sprechen sie es mächtig aus: Jetzt ist Frühling! Mögen die Spielverderber von den Eisheiligen faseln, die Mitte Mai noch ins Haus schneien werden. Sollen sie doch! Das kurze Gastspiel ändert nichts: Der Frühling hat gewonnen, sobald er sich im Herzen eingenistet hat.
Dann schlägt auch ihre Stunde. Sorgsam verhüllt hat sie die kalten Monate hoffentlich gut überstanden. Ihr Kümmerer naht bangen Herzens. Schon die graue Hülle zurückzuschlagen, beschleunigt seinen Ruhepuls. Dann folgen schüchterne Beweise ehrfürchtiger Zuneigung. Hände streichen ihr über die Flanken, tätscheln das ausladende Heck. Natürlich muss sofort allerhand geputzt und poliert werden. Denn selbst Damen von zeitloser Schönheit machen sich erst frisch, ehe sie der Welt den Atem rauben. Drei Tritte auf den langen Hebel des Kickstarters erwecken sie schließlich erneut zum Leben. Sie knattert los, den Gratulanten entgegen: Denn die Vespa wird heuer 75.
Meine Gattin stellt einen Espresso neben den Laptop und verstrubelt mir die Haare. Dann zieht sie sich lachend zurück. Ich bin gerade von der ersten Ausfahrt zurückgekehrt und nur bedingt zurechnungsfähig.
Die Vespa wurde in der Toskana erfunden. Im Städtchen Pontedera standen 1946 die Überreste der zerbombten Flugzeugfabrik Piaggio. Doch Enrico Piaggio hatte die zündende Idee. Aus dem Bugrad eines Flugzeugs und einem 98-Kubikzentimeter-Motor entwickelte er zusammen mit dem Luftfahrtingenieur und Erfinder Corradino D’Ascanio den kleinen Motorroller mit den nachgerade sündhaften Formen, der bis heute wie kaum ein anderes Produkt italienisches Lebensgefühl in alle Welt trägt.
Mein persönliches Exemplar dämmerte lange in einem vergessenen Winkel im Haus meiner Schwiegereltern dahin. Schon reichlich angerostet und mit Schrammen übersäht, ließ sich die Vespa dennoch starten. Das Getriebe gab nur mehr den zweiten Gang frei. Die Fahrt von Müselbach nach Hard im zweiten Gang dauert mit den nötigen Pausen etwa zwei Stunden. Im Schritttempo begann so eine innige Beziehung. Heute läutet das Erbstück gepflegt restauriert stets das Ende der kalten Jahreszeit ein.
Die erste Fahrt führt nach Bregenz, am Milchpilz vorbei, auch so einem Relikt aus den 1950er Jahren. Die Hermann Waldner AG aus Wangen hatte ihn am 20. Juli 1953 nach Bregenz verpflanzt, inklusive Schlagsahnezapfer und Eismaschine „Rapidchen“. Heute betreibt ihn Sabina Sakic, deren Mama schon über 40 Jahre lang Gäste und Einheimische bewirtet hat.
Der Pilz stand übrigens früher auf der anderen Seite des Bahnübergangs, ganz nahe am „Zigeunerstüble“, einer eher einfachen, mit Bastmatten verkleideten Ausschank, die eine Zeit lang von Oskar Spang betrieben wurde. Damit schließt sich der Kreis zur Vespa, denn der Pressefotograf aus der Bukowina, der nach dem Krieg in Bregenz gestrandet war, zählte wohl zu den versiertesten Rollerfahrern überhaupt. Mit Trenchcoat, Schieberkappe, Sonnenbrille und seiner Leica hat er Jahrzehnte auf der Vespa Fotojournalismus betrieben und mit mehreren hunderttausend Bildern eine der größten Fotosammlungen des Landes hinterlassen, die heute in der Landesbibliothek und im Stadtarchiv Bregenz verwahrt wird. Wenn er in die Redaktion kam, erschien er uns Jungen wie ein Schauspieler, der eben einem Schwarzweißfilm entlaufen war. Wir haben ihn sehr gemocht.
Zu seinem achtzigsten Geburtstag durfte ich ihn porträtieren und habe ihn zuhause besucht. Nach einer Weile zog er unter der Matratze seines Bettes verschmitzt lächelnd eine Dokumentenmappe hervor, die seinen Pass und alle seine Papiere barg, bis hin zu seinem Gesellenbrief aus der Vorkriegszeit. Bis zu seinem letzten Tag blieb der ehemalige Flüchtling in jedem Augenblick seines Lebens zum plötzlichen Aufbruch gerüstet…
So schwingt in jedem Frühlingsbeginn auch ein Stück Erinnerung mit. Vielleicht ist dies ja die herausragendste Eigenschaft des roten Stück Metalls, das auf Hochglanz poliert dem Sommer entgegenschlummert.
Es lädt zu Zeitreisen ein…
Bleiben Sie neugierig und gesund,
herzlichst,
Ihr Thomas Matt
Ps.: Bei Russmedia ist 1999 das Buch „Oskar Spang – seine Leica – seine Vespa – sein Leben“ erschienen. Herausgegeben hat es Peter Marte.
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
Es ist gut, dass ich grundsätzlich nicht neidisch bin.
Eine Vespa hat er, der Thomas Matt. Wollt ich immer, haben mir meine Eltern aber nicht gestattet. Kennen Sie den Satz: „Aaaaaaalle haben ein Mofa nur ich nicht!!!“?
Hat aber nichts genützt, der Deal war: motorisiertes Zweirad oder Führerschein mit 18. Na was werde ich wohl gewählt haben. Immerhin durfte ich einige Monate lang den Schulweg mit einem – geliehenen – Solex bewältigen. Die Römerstraße rauf haben mich meine anständig motorisierten Freundinnen zwar laut lachend überholt, aber das Solex war wenigstens ein bisschen lässiger als ein Fahrrad.
Meinen Jugendwunsch habe ich mir bis heute nicht erfüllt, deswegen habe ich, während Thomas Matt mit seiner Vespa die erste Frühlingsrunde gedreht hat, auf meinem Balkon die grünen Spitzchen jener Pflanzen gezählt, die ich vor wenigen Wochen ausgesät hatte. Eine Bienenweide soll es werden. Große Freude, es waren viele Spitzchen. Sie wissen, wie es dann wettermäßig weitergegangen ist…
Aber die Spitzchen haben dem kalten Nass getrotzt, sie sind wie wir. Wir trotzen auch. Und wenn uns die Nachrichten rund um dieses verteufelte Ding das uns nun schon seit mehr als einem Jahr quält niederdrücken, geben wir unser Bestes, um mit dem nächsten Sonnenstrahl wieder aufzustehen.
Mit Sonnenstrahl meine ich nicht nur die echte, richtige Sonne, damit meine ich auch sogenannte Sonnenpunkte. Schöne Momente im Leben.
Ein Beispiel: Meinem sturen, kindlichen Optimismus treu bleibend, habe ich für den 2. Juli ein Zimmer in einem traumschönen Hotel in Südtirol gebucht. Am Abend des 2. Juli tritt meine Lieblingsband im Nachbarort auf, am Tag danach spielt sie am Vormittag in eben dem Hotel in dem ich nächtigen werde. Ich habe ALUNA noch nie live gehört, obwohl ich ihre Musik, also ihre CDs, seit rund 15 Jahren kenne.
12 Wochen dauert es noch, nicht einmal mehr ganz, dann ist es soweit. Dann werde ich sie erleben, die 5 Herren.
Damit Sie einen kleinen Eindruck bekommen, falls Sie möchten, hier ein link: https://www.youtube.com/watch?v=CqOGrD-TEBE
Wann immer ich an den 2. Juli denke, oder den Eintrag im Kalender sehe, zieht es mir ein breites Lächeln auf. Vorfreude pur!
Sie fragen sich jetzt vielleicht, wie ich reagieren werde, wenn da nix draus wird. Ganz einfach, dann werde ich kurzfristig grantig sein, sehr grantig und traurig. Vermutlich werde ich Schokolade essen (Salty-Peanut-Caramel wirkt immer) und dann werde ich wissen, dass meine Lieblingsband am 2. Juli nicht zum letzten Mal auftreten wird. Und immerhin habe ich mich ein paar Wochen lang sehr gefreut!
Naiv? Kann sein, aber ich freu mich halt gerne.
Über den Montagsimpuls von Thomas Matt habe ich mich auch gefreut, weil er wieder Erinnerungen hochgespült hat, die mich zum Grinsen bringen.
In dem von ihm erwähnten Kiosk in Bregenz, der dem Milchpilz gegenüberstand, habe ich eine Zeit lang gearbeitet! Im Sommer nach meinem Studienabschluss habe ich dort Eis verkauft, Ansichtskarten, Stroh Rum, Souvenirs und Zuckerlen. Und einmal einen hölzernen Rosenkranz und – wenn ich mich richtig erinnere – auch ein Hirschgeweih.
Die Kunden an diesem Kiosk waren in sehr seltenen Fällen hochgeistige, der Höflichkeit verpflichtete Menschen. Eher im Gegenteil. Des Öfteren geschah es, dass in sehr unwirschem Ton “ Ein Eis!“ verlangt wurde.
Wir hatten viele verschiedene Sorten und ich hätte gerne gewusst, ob mich die potentiellen Eis Esser wohl für hellseherisch veranlagt hielten, weil sie mir nicht sagten welches Eis sie denn gerne hätten.
Auf meine diesbezügliche, freundliche Nachfrage bellten sie mir „Cornetto“ entgegen. Das gab´s auch in mehreren Sorten. Ich legte ihnen Vanille hin – das traf´s meistens – und verkniff mir schweren Herzens den Hinweis, dass ein freundliches „bitte“ und die Verwendung von ganzen Sätzen die Kommunikation zwischen zwei Menschen maßgeblich verbessert.
Sie waren ja bald wieder weg. Und das war gut so.
Damals habe ich gelernt, wie wichtig es ist, ALLEN Menschen gegenüber mit Höflichkeit und Aufmerksamkeit zu begegnen. Ihnen in die Augen zu schauen, wenn man sie um etwas bittet und ihnen für Ihre Arbeit zu danken. Verkaufspersonal, Servicekräften, den armen Menschen die uns in der Nase bohren müssen, damit wir ins Konzert oder ins Gasthaus gehen dürfen oder jenen, die uns impfen… Die Liste kann/darf beliebig fortgesetzt werden.
Es wird jetzt immer wichtiger, dass wir das nicht vergessen. Ich ertappe mich selbst dabei, wie ich in einem Kokon aus: „ich darf niemanden berühren und niemandem zu nahekommen“ zu verschwinden drohe. Ein Kokon ist nicht durchsichtig, also sehe ich niemanden und werde scheinbar auch nicht gesehen. So fühlt sich der momentane Zustand zumindest manchmal an, so reagiere ich zeitweise auf meine Umwelt bis ich erschreckt zu meinem wahren Ich zurückfinde.
Der Begriff „social distancing“, den man uns seit Monaten um die Ohren haut, ist verstörend irreführend. Wir dürfen nicht sozial distanziert werden, wir müssen nur räumlich Abstand halten. Nur….ich weiß schon, das ist schwierig genug bei Menschen die wir mögen.
Selten war Freundlichkeit und Aufmerksamkeit gegenüber anderen wichtiger als jetzt. Und Hoffnung und nicht nachlassende, oder wieder aufflammende Lebensfreude.
Lange habe ich darüber nachgedacht, ob mir ein Buch einfällt, das zu den beiden letzten Sätzen passen würde. Ich bin gescheitert. Haben Sie einen Tipp für mich? Aber bitte nichts aus dem Genre der Lebensratgeber. Das geht grad gar nicht.
Bei mir ist es halt doch immer wieder die Musik, die mir den nötigen Treibstoff liefert, den ich benötige um die nächsten Kilometer durchzuhalten. Vielleicht haben Sie das Konzert mit Kirill Petrenko und den Berliner Philharmonikern auf ARTE gesehen (Tschaikowsky und Rachmaninow). Das war Freude pur. Es lohnt sich, das Konzert in der Digital Concert Hall nachzusehen. Diese überbordende Glückseligkeit, mit der Petrenko dirigiert…einfach herrlich.
Auch sehr schön und kostenlos zum Unterschied von der Digital Concert Hall (die sich dennoch rentiert, besonders jetzt):
https://www.youtube.com/watch?v=-Tm0Phjiouk
Alfred Brendel und das Lucerne Festival Orchestra unter der Leitung von Claudio Abbado mit dem 3. Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven. Da ist auch alles drin, was wir in den letzten Monaten gefühlt haben. Und dieses wunderbare Tempo, das die beiden Meister gewählt haben. Endlich einmal nicht zu schnell. Tut gut!
Wo immer Sie Ihren Treibstoff fürs Leben herbekommen: aus Waldspaziergängen, vom Vespa fahren, dem Espresso, den Ihnen der Mensch Ihres Herzens hinstellt, weil er/sie spürt, dass sie ihn jetzt brauchen, einem guten Buch, der Musik, einem Gespräch mit einem Menschen von dem Sie sich verstanden fühlen – ich wünsche Ihnen sehr, dass Sie immer wieder auftanken können.
Wir schaffen das!
Sehr herzliche Grüße
Bettina Barnay
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
immer wieder löst sich einer der schlaksigen Kerls aus der Gruppe und spielt mit dem Kleinen. Der mag vier, höchstens fünf Jahre alt sein. So ein Dreikäsehoch verfügt über ein schier unerschöpfliches Reservoir an Energie. Deshalb wechseln sie sich ab. Seine älteren Brüder, Onkeln, beste Freunde? Vermutlich von allem etwas. Sie sprechen Ungarisch. Eine große Familie verbringt da den Abend am Bodenseeufer und grillt. Triumphgeheul teilt uns mit, dass der Kleine eben ein Tor geschossen hat. Sein großer Gegner steht breitbeinig da. Das runde Leder kullert hindurch. Schöner geht nicht.
Ach, Bettina, möge Deine Bienenweide sprießen, auf dass Dich durchdringendes Summen empfängt, wenn Du nach Deiner Rückkehr aus dem Südtirol wieder auf Deinen Balkon trittst! Südtirol – wissen Sie noch, wie sich das anfühlt? Diese fette, fruchtbare Erde, das ganze Land steht jetzt in Blüte, draußen sitzen, Campari süffeln, sich vom Dialekt liebkosen lassen, und später vielleicht Vinschgerln, Speck, ein bisserl Käse schmausen? „Via con me“ singen die fünf Herren von Aluna aus den Lautsprechern meines Computers, aber ich kann nicht. Ich schick Euch die Bettina! Schwarzacher Nordhang, beste Lage.
Jetzt flennt er, der kleine Bub. Weltschmerz. Einer der Großen hält ihn auf den Knien. Sandor – so heißt er – hat den heißen Kopf an seine Schultern gelehnt und wimmert. Der Große, der aussieht wie ein Profifußballer im Trainingscamp, hält ihn fest, nippt nebenbei an der Bierdose und unterhält sich mit den anderen. Plötzlich klatschen ein paar große Wellen ans Land, schon ist alles Unglück zerstoben. Der Kleine fliegt auf und davon.
Die ganze Zeit zermartere ich mir das Gehirn, aber ich hab zu der Zeit, als Bettina in einem Kiosk am See Rum, Eis und sogar einmal ein Hirschgeweih losschlug, bestimmt auch in der Cornetto-Liga gespielt. Ob ich ihr meine Wünsche auch über den Tresen so richtig vor den Latz geknallt habe? Das will ich nicht hoffen! Denn damit hat sie ja so recht: Ein wenig Freundlichkeit und gegenseitige Achtung machen das Leben um so vieles lebenswerter!
Das Ufer an der Slipanlage des Bregenzer Segelhafens liegt voller Steine. Man kann barfuß gehen und schauen, wie lange man’s aushält. Oder ausrutschen wie das Mädchen, das seine Unachtsamkeit jetzt mit einer nassen Hose und dem ersten Bad im kristallklaren Wasser bezahlt. Oder man wird plötzlich der wundervollen Formen gewahr, die einem da zu Füßen liegen: Erst lief er hin und her, dann beobachtete er einen Schwan in sicherer Distanz. Jetzt sitzt Sandor am Boden und baut aus immer schöneren Kieseln wackelige Türme. Zwei Burschen und eine junge Frau aus der Gruppe haben sich zu ihm gesellt und bauen mit. Der Wind weht vielstimmiges Lachen herüber.
Wenn eine eine Reise tut, sollte sie zu lesen haben. Aber das schreibt sich so leicht. Wie war das? Freundlichkeit, Aufmerksamkeit und Hoffnung sollten durch die Zeilen schimmern? Ganz schön anspruchsvoll! Aber ich geb’ mir mal Mühe und kram in meinen Bücherwänden: Als erstes fällt mir „Tief in Bayern“ in die Hände. Manchmal hilft ja ein einfacher Perspektivenwechsel.
Dass wir Europäer als Ethnologen die Welt erforscht haben, weiß jeder. Deshalb können wir über nordkenianische Verlobungsriten und südpolynesische Begräbnisrituale erschöpfend Auskunft geben, knicken aber bei der Frage nach der zweiten Strophe unserer Landeshymne regelmäßig ein. Was aber, wenn mal uns einer erforschte? Dies ist geschehen. Also nicht uns, sondern unseren nördlichen Nachbarn. Als Autor wird der gebürtige Texaner R. W. B. McCormack angegeben, er könnte aber auch gut und gerne Gert Raithel heißen. Er beginnt sein Buch mit den Worten: „In den Human Relations Areas Files, einer unverzichtbaren ethnographischen Datenbank, sind nicht weniger als 11.000 Seiten über die Navajos gespeichert; über die Bayern kein Wort.“ Dann macht er sich auf knapp 300 Seiten daran, beschämende Wissenslücken zu füllen.
Themen, wie Politik („In kritischen Wahlbezirken werden die Bleistifte in den Wahlkabinen so kurz angebunden, dass nur der zuoberst stehende Wahlvorschlag angekreuzt werden kann“), Sprache („Traditionsbewusste Bauern legen Wert auf sprachliche Genauigkeit. Der Bauer liegt bei der Bäuerin, aber er flaggt bei der Magd“), Religion, Ehe und Liebe, Essverhalten usw. werden vergnüglich behandelt, gespickt mit Zitaten, etwa von Gerhard Polt oder Sepp Maier. Dieses Buch strotzt geradezu vor Freundlichkeit und atmet Hoffnung, denn gegen einen solchen Menschenschlag ist ein Virus machtlos.
Das zweite Buch trägt den Titel „Liebhaber ohne festen Wohnsitz“ und ist der Feder von Carlo Futtero und Franco Lucentini entsprungen. Man kann sich den amüsanten Kriminalroman auch vorlesen lassen. Sophie Rois hat die Geschichte des David Ashver Silvera und einer römischen Principessa als Hörbuch eingelesen. Es lohnt sich! Sie werden sich in Silveras „Ah“ verlieben…
Und dann wären da noch „Rheinsberg“ von Kurt Tucholsky und „Die dritte Luft“ von Christoph Ransmayr, „Seide“ von Alessandro Barrico und „Hallo, Mister Gott, hier spricht Anna“, von dem wir bis heute nicht wissen, wer es geschrieben hat. Wie sagt Anna? „Der Unnerschied von einen Menschen und einen Engel ist ganz einfach: Das meiste von ein Engel ist innen, und das meiste von ein Menschen ist außen…“
Nein, am 23. April feierten wir den Welttag des Buches, gerade, weil es uns seit Menschengedenken erschüttert und verblüfft, uns mit Hoffnung und Zuversicht beschenkt. Die schönsten Geschichten freilich schreibt noch immer das Leben.
Der kleine Sandor ist inzwischen eingeschlafen. Er hat sich auf einer Decke in der Wiese zusammengerollt. Wovon er wohl träumen mag? Da stellt einer der jungen Burschen sein Bier ab, klaubt seine Jacke vom Boden und schlendert zu dem Kleinen hinüber. Dann deckt er ihn zu. Und die ganze Zärtlichkeit der Welt liegt in dieser einen, fürsorglichen Geste…
Bleiben Sie neugierig und vor allem: gesund!
Herzlichst, Ihr
Thomas Matt
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
ganz früh am Tag, wenn mir ein kalter Wind noch einreden will, dass der Winter doch nicht vorüber ist, stehl ich mich in den nahen Auwald. Die Dämmerung schält behutsam einzelne Stämme aus dem nächtlichen Schwarz. Tastend suchen meine Füße den Weg über Wurzeln und durchs Gehölz. Ein schmaler Pfad am Ufer der Ach lädt ein, zwischen den Bäumen umherzustreifen. Man ist im Nu der Welt entflohen, die dort draußen gerade mit Hupen und Rufen und Motorenlärm erwacht, und verwundert merke ich, dass sich etwas verändert hat. Meine simple Einteilung der Natur in Pflanzen, die man destillieren oder rauchen kann, und eben die anderen, hat einer kindlichen Scheu Platz gemacht. Das alles erscheint im Morgenlicht so … kostbar. Mit so viel Phantasie ersonnen.
„Ein tiefer, träger Fluss, still und glatt wie geschmolzenes Glas“, würde dazu der Brite Archibald Stansfeld Belaney anmerken, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Trapper im Kanu und zu Fuß durch Kanadas Wildnis zog. Er nannte sich „Grey Owl“. Mit seiner Erzählung „Pfade in der Wildnis“, die 2019 in der Anderen Bibliothek erschienen ist, hat er ein frühes Stück ökologischer Literatur hinterlassen. Die Rauheit und Gewalt der Wälder, Flüsse und Seen und ihrer tierischen Bewohner waren ihm zutiefst vertraut. Da schrieb ein Mann, dessen kindlicher Wunsch, Indianer zu werden, so groß war, dass er tatsächlich einer geworden war. Er erzählt von den Wundern eines Kosmos, der des Menschen nicht bedarf und doch von der Zivilisation bedroht ist.
Wie komm ich drauf? Ist es die pfadfinderische Vergangenheit, die sich da zu Wort meldet? Oder am Ende heimlich Winnetou im TV geschaut, zu schwer gegessen und dann unruhig geträumt? Oder bringt einfach der alljährliche Auftakt der Grillsaison das Tier im Manne zum Vorschein? Mit hungrigen Blicken kann man sie jetzt durch die Baumärkte streifen sehen, die Herren der Schöpfung, die alsbald in den Vorgärten der Städte wieder große Feuer entfachen werden, um nicht länger rohes Fleisch von den Knochen nagen zu müssen.
Aber das alles greift zu kurz. Es hat mehr mit Bettina Barnays Brief zu tun. Weil mitunter nur die Natur in ihrer großen nimmermüden Erzählung vom Leben uns über Verluste zu trösten vermag und weil ich, als ich ihre literarische Frage las, tatsächlich im selben Augenblick das Buch „Walden“ von Henry David Thurau in Händen hielt. Ist das nicht sonderbar?
Sie haben später einen Asteroiden nach ihm benannt und auf dem Planeten Merkur den gewaltigen Einschlagkrater eines solchen Himmelsgeschosses. Es hat rund 100 Jahre gedauert, bis sich Henry David Thoreau am Firmament verewigt hat, in den Montagsbrief von Bettina Barnay fand er vergangene Woche Eingang als Antwort auf ihr Rätsel: Wer war der Mann, den Ralph Waldo Emerson seinen Freund nannte und der sich eines Tages am einsamen Waldensee in Massachusetts ein Blockhaus zimmerte, um darin zwei Jahre lang abgeschieden zu leben? Der zum Schluss kam, dass sechs Wochen Arbeit in Jahr genügten um seine bescheidenen Bedürfnisse zu stillen? Dessen widerständige Gedanken sich später bei Mahatma Gandhi wiederfinden? Er hieß Henry David Thoreau. Und Asteroid, Krater und Rätsel treffen ihn vermutlich ziemlich gut.
- Ein unangenehmer Geselle. „Wenn er mit anderen Menschen zusammen war, widersprach er ihnen fortlaufend“, schreibt Emerson, in dessen Haus er eine Zeit lang gewohnt hat.
- Ein Nonkonformist: Pflegte wenig gesellschaftlichen Umgang, das Gespräch mit „einem guten Indianer“ war ihm angenehmer als die vermeintlich gute Gesellschaft.
- Kein Drückeberger: Seine erste Lehreranstellung schmeißt er hin, weil die Schulleitung von ihm verlangt, die Kinder zu züchtigen. Als Gegenentwurf gründet er mit seinem Bruder eine Privatschule.
- Ein Unbeugsamer: Wegen Steuerschulden geht er ins Gefängnis. Er hätte schon zahlen können. Aber die Verwendung der Steuergelder war ihm zuwider. Also ließ er sich einsperren.
Er schreibt in seinem berühmten Buch „Über das Leben in den Wäldern“: „Plötzlich sah ich mich als Nachbarn der Vögel; nicht, weil ich einen gefangen setzte, sondern weil ich mir meinen Käfig in ihrer Nähe gebaut hatte.“ Am 4. Juli 1845 bezieht er sein Blockhaus, am amerikanischen Unabhängigkeitstag. Vier Jahre späte veröffentlicht er seinen Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“. Nein, das ist jetzt keine verklausulierte Kumpanei mit den Corona-Leugnern. Thoreau schreibt das Buch gegen den Kadavergehorsam. Er pocht auf das eigene Gewissen, auf den moralischen Kompass in uns. Deshalb war er ein so hartnäckiger Gegner der Sklaverei, er konnte gar nicht anders.
Aber Schluss mit den Gedanken! In der Zeitung, im Radio, im Internet fiebern sie jetzt alle auf den 19. Mai hin. Dann fängt das Leben wieder an! Eine Bekannte hat sich jetzt doch noch zur Impfung entschlossen, damit sie ungehindert an der Wiederauferstehung teilhaben kann. Als stünde eine Riesenparty bevor. Sollte man da nicht ganz andere Dinge lesen als Thoreau und Grey Owl?
Also: „New York, New York“ auf den Plattenteller, einen Manhattan ins Glas und den großen Gatsby zur Hand, der wusste schließlich, wie man eine Party schmeißt! Oder lieber etwas nobler? Dann schauen wir Mrs. Dalloway über die Schultern, einer der glänzendsten Gastgeberinnen Londons. Sie bereitet an diesem Tag im Jahr 1923 eine Abendgesellschaft vor. (Sie wissen bestimmt, wer diese Figur zu Papier gebracht hat.)
Das wär doch was, einer Expertin zusehen! Aber dann kommt man Seite für Seite dahinter, dass Clarissa Dalloway das alles eigentlich nur tut, weil die Umgebung es von ihr erwartet.
Sie entspricht der Konvention, mehr nicht.
Dann vielleicht doch lieber Thoreau? Mit weit weniger Luxus, dafür aber ungebunden, … frei?
Bleiben Sie neugierig und vor allem: Bleiben Sie gesund!
Herzlichst,
Ihr Thomas Matt
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
Spüren Sie ihn, den zarten Hauch der Hoffnung?
Er wird verstärkt durch das immer grüner werdende Grün in der Natur. Bitte beachten Sie das Foto in der Anlage, es ist bei einem Waldspaziergang entstanden, am Muttertag, in einem Wald oberhalb von Röthis.
Da gibt es einen Vita Parcours und einen herrlichen Spielplatz. Fast alles im Schatten, perfekt für heiße Tage, perfekt für so Unsportler*innen wie mich (Sportler*innen können den Weg mehrfach und im Laufschritt bewältigen), perfekt für Kinder, die zuerst durch den Vita Parcours rennen und sich dann am Spielplatz austoben können. Während die Erwachsenen – je nach Tiefe des Vertrauens zu den Kindern – entweder in deren Nähe auf einem Bänkchen rasten, oder aber den Aussichtspunkt aufsuchen und daselbst den Blick auf den Säntis, die Churfürsten und die Alviergruppe genießen können.
In die Ferne schauen….das tu ich jetzt auch, ganz kurz nur:
Markieren Sie doch bitte den 4. Oktober in Ihrem Kalender, dann geht es nämlich wieder los bei uns im Montagsforum. Zumindest haben wir das so geplant, angespornt vom zarten Hauch der Hoffnung. Weitere Details dann Anfang Juni. Merken Sie sich bitte auch den 6. /7. Juni vor und behalten Sie Ihren Posteingang im E-Mail im Auge, da kommt bald noch was…
Noch zwei Tage bis zum 19. Mai auf den, Thomas Matt hat es treffend geschrieben, so viele hin fiebern. Ich auch. Endlich nicht mehr testen lassen müssen. Mein letztes Test-Erlebnis hat mir die Bereitschaft, mir hochoffiziell die Erlaubnis zu einem Konzert- oder Kaffeehausbesuch einzuholen, ziemlich vermiest. Der junge Mann rammte mir das Stäbchen so ungestüm ins Nasenloch, dass ich zurückwich bevor es sich seinen Weg in den Temporallappen bahnen konnte. Was wäre ich ohne Hören, Sprechen und Gedächtnis? Diese Fähigkeiten wohnen im Temporallappen. Der junge Mann rügte mich unwirsch, ich wankte von dannen, unter meiner Maske ein Wort murmelnd, dessen Gebrauch ich meinen Kindern und Enkeln strengstens untersagt hatte.
Ja, ich weiß, dass das Stäbchen nicht bis in den Temporallappen hätte vordringen können und ich bin, seit der Lektüre des Buches „Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl“ auch wieder sehr viel vorsichtiger geworden mit meinen Aussagen.
Geschrieben wurde das Buch von Florian Aigner, er ist Physiker und Wissenschaftspublizist und wenn Sie eh schon alles wissen, müssen Sie das Buch nicht lesen. Mir aber hat es viele erhellende und erheiternde Momente geschenkt.
Einen der erhellenden Momente möchte ich mit Ihnen teilen, für den Fall, dass Sie in den letzten Monaten auch mehrfach versucht haben, mit Menschen zu diskutieren, die der Ansicht sind, dass das Corona-Virus als Mittel zur Erreichung der Weltherrschaft verbreitet wurde. Wahlweise von Bill Gates oder den Chinesen.
Florian Aigner erklärt uns die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens (also der Diskussion mit Verschwörungstheoretikern) mit Hilfe des „Dunning-Kruger Effekts“.
Der beschreibt die maßlose Selbstüberschätzung inkompetenter Menschen in Kombination mit der Weigerung, die Leistungen kompetenter Menschen anzuerkennen.
Mein Lieblingsbeispiel aus den Forschungen der Sozialpsychologen David Dunning und Justin Kruger ist ein Mann, der unmaskiert eine Bank überfallen hat, vollkommen unbeeindruckt von der Tatsache, dass er von mehreren Überwachungskameras aufgenommen wurde. Bei seiner Festnahme war er echt erschüttert darüber, dass man ihn gefunden hatte, er hatte sich schließlich das Gesicht gründlich mit Zitronensaft eingerieben und das, so tönte er, mache bekanntlich eine Identifikation unmöglich.
Bei seiner Vernehmung wäre ich gerne dabei gewesen.
Fast ein bisschen schade, dass wir Verschwörungstheorien schon als Thema hatten, im Montagsforum.
Florian Aigner aber steht auf der Liste derer, die wir dann einladen, wenn wir uns endlich dem Thema „Wissen“ zuwenden werden, im Frühjahr 2022 wird das sein.
Spüren Sie ihn, den zarten Hauch der Hoffnung? In manchen Momenten wächst er sich schon zu einem veritablen Stürmchen aus! Aber bevor mich das aus dem Büro trägt und ich wie Dorothy in Oz* lande, löse ich noch das Rätsel vom vergangenen Montag:
Virginia Woolf war es, nach der Thomas Matt gefragt hat. Falls Sie sich noch an den Komponisten erinnern, der – in Zusammenarbeit mit dem Librettisten Ernst Marianne Binder – Virginia Woolfs Roman „To The Lighthouse“ in eine Oper umgewandelt hat die 2017 bei den Bregenzer Festspielen zur Uraufführung gekommen ist, schreiben Sie mir. Das Bühnenbild habe ich in prägender Erinnerung, die Gschicht selbst war ziemlich düster. Kein Wunder bei der Lebensgeschichte von Frau Woolf.
Der zarte Hauch der Hoffnung bläst schnell wieder alle düsteren Bilder weg, wir setzen uns ins Freie (wenn es wieder wärmer wird), essen ein Eis und halten das Gesicht in die Sonne. Wenn es zu heiß wird: ab in den Wald, Kopf in den Nacken und in die Baumkronen geschaut. So wie auf dem Foto.
Schauen Sie auf sich und haben Sie es so gut wie möglich.
Herzliche Grüße
Bettina Barnay
Buchtipps:
Florian Aigner: „Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl“ Eine Liebeserklärung an die Wissenschaft Brandstätter
*Lyman Frank Baum: „Der Zauberer von Oz“
Liebe Freundinnen und Freunde des Montagsforums,
sechs Uhr morgens. Die Sonne taucht meinen Schreibtisch in gleißendes Licht. Sie bringt die Buchstaben auf den Buchrücken zum Leuchten. Ein wenig Staub flirrt in der Luft. Durch das große Fenster hindurch fühle ich die Wärme der Sonnenstrahlen auf meiner Haut und weiß: Jetzt ist er da, der Sommer. Hat sich etwas Zeit gelassen. Aber jetzt scheint er unverblümt eingetreten, ganz ohne Übergang.
Dies ist voraussichtlich mein letzter Brief. Mit etwas Glück , denn das Semester endet bald. Dieses eigenartige Semester, das uns nicht ein einziges Mal vor die Tür trieb, und das unseren Erfahrungshorizont auf Bildschirmgröße eindampfte. Aber jetzt scheint das alles bald vorüber. Das Glück ist die Aussicht auf ein Wiedersehen. Ganz analog. Persönlich. Aug in Aug. Im Kulturhaus in Dornbirn. Am 6. und 7. Juni feiert die Auferstehung Generalprobe, und am 4. Oktober dann, endgültig…
Jetzt ist es sechs Uhr morgens. Der Brief hat noch etwas Zeit. Ich strecke mich, gähne herzhaft, wirf mir eine Jacke über und geh spazieren.
Beständig und zügig fließt die Bregenzerach in Richtung See. Sie bringt Schmelzwasser. An der Biegung hat sie eine kleine Insel aus Geröll aufgetragen. Der Weg dorthin führt über ein Flussufer voller „Achbolla“. Fröhlich schwankender Gang. Schritt für Schritt in all der Unebenheit immer wieder festen Stand gewinnen. Suchend tasten, ausbalancieren, auftreten. Wie eine Mischung aus Tänzer und Betrunkener. Es ist gar nicht so leicht in all den Schieflagen einen Standpunkt zu gewinnen. Aber nicht, um stehen zu bleiben. Erst der feste Ausgangspunkt erlaubt den nächsten Schritt, ohne ins Taumeln zu geraten. Suchen, finden, aufbrechen. Haben wir uns so die letzten anderthalb Jahre entlang getastet?
Ich hab einmal ein Kind so gehen sehen. Diesen köstlichen Augenblick miterleben dürfen, da es sich seiner Schritte bewusst wurde. Es ging dann für ein paar Augenblicke ganz bedacht, traumverloren, in sich gekehrt, konzentriert. Wie ein Mensch, der bewusst atmet. Ein, aus, ein, aus. Das hält man nicht lange durch. Dann tauchen Atem und Gehen wieder in die lebensbejahende Selbstverständlichkeit.
Heute fahr ich nach Deutschland. Steige auf mein Motorrad und tuckere über Weiler ins Allgäu. Einfach mal wieder jenseits der Grenze dahin rollen. An den schmucken Höfen vorbei und unter den Maibäumen hindurch. Vielleicht den Gottesdienst besuchen im Wolfegger Barockjuwel? „Nur mit Anmeldung“, schreiben sie im Internet. Auch Einkehren im Ochsen in Kißlegg ist nicht, weil „das Testregime“ es noch nicht zulässt. Die Deutschen nennen es tatsächlich „Testregime“. Aber es reicht schon nicht mehr bis zum See. In Lindau schreitet das Erwachen zügig voran. Hat die Gastgärten erreicht und scharrt jetzt an den Fenstern der eingemotteten Braustuben.
Heute Morgen Dostojewski aufgeschlagen. „Schuld und Sühne“. Es stand schon ganz vergessen bei den Russen im Regal, in der zweiten Reihe. Zu Beginn seines Romans lässt Dostojewski den Jus-Studenten Raskolnikow „an einem der ersten Tage im Juli“ auf die Straße treten. „Seine Kammer lag unmittelbar unter dem Dach des hohen, fünfstöckigen Hauses und hatte in der Größe mehr Ähnlichkeit mit einem Schrank als mit einer Wohnung.“ Raskolnikow ist mittellos. Auf dem Weg zur Pfandleiherin. Ein Unglücklicher.
Nun, hier ist nicht St. Petersburg, und dies ist zweifelsfrei kein Schrank. Ich spaziere durch den Garten zur Garage und werde noch beim Bankomaten vorbeifahren, ehe es nach Norden geht. Später am Abend werd’ ich mir dann denken: Es war ja alles noch da! Die putzigen Häuser und Landschaften, die immer ein wenig an eine Spielzeugeisenbahn erinnern. (Man möchte immerzu die Kühe mit der Hand aufnehmen und ein Stück weiter drüben wieder hinsetzen.) Der Garten in Pfärrich steht in voller Blüte. Aus den geöffneten Fenstern der benachbarten Gaststube wallt Bratendurft. Alles noch da, wie früher.
Und die zweirädrigen Glücksritter, die mit staunenden Kinderaugen in diesem schwäbischen Garten Eden ihre Kurven ziehen, beglückwünschen einander auf ihre Weise: Sie grüßen sich. Knapp und lässig. Motorradfahrer tun das manchmal. Aber heute tun es alle, ausnahmslos. Heben kurz die Hand vom Lenker, so wie Bregenzerwäldar Autofahrer den Zeigefinger der rechten Hand vom Lenkrad heben, wenn sie ihresgleichen begegnen.
Es heißt so viel wie „Tservas!“
Also dann: Bleiben Sie neugierig und gesund. Und genießen Sie den Sommer! Und verzeihen Sie mir diese kleine Vertrautheit: Ich hebe den Zeigefinger der rechten Hand von der Tastatur und murmele: Tservas! Man sieht sich. Spätestens im Oktober, im Dornbirner Kulturhaus.
Herzlichst,
Ihr Thomas Matt