20. Nov. 2023, 09:30 - 11:30 Uhr

Grenzen – Boarders – Kордони

Sprache ist Identität, ist der Geburtskörper unserer Gedanken. Wir reden von Mutter-Sprache, wir schließen von dieser Mutter-Sprache auf die ethnische Zugehörigkeit der Sprechenden. Und doch kann eine ukrainische Schriftstellerin russische Muttersprachlerin sein und jemand, der mit Spanisch als erster Sprache aufwächst, US-Amerikaner.

Jede Sprache hat ihre Regeln, kennt aber gleichzeitig keine Grenzen. Sie ist fluide und ständigen Metamorphosen unterworfen – nur so bleibt sie lebendig, überwindet nationale, politische und geografische Grenzen. Am Jiddischen sehen wir, wie dieselbe Sprache in jeweils anderen Regionen der Welt unterschiedliche Klänge, Bedeutungen, ein anderes Vokabular entfaltet. Und in einem Land wie der Ukraine sind neben dem Ukrainischen auch das Jiddische, das Tatarische, das Moldawische, das Georgische und das Russische zu Hause.

Sprache lässt uns an Konzepten wie dem der Nationalstaatlichkeit zweifeln. Gleichzeitig führt uns der Vernichtungskrieg gegen die Ukraine die Dringlichkeit der Anerkennung von Ländergrenzen, souveräner Staaten und ihrer jeweiligen Nationalsprache vor Augen. In Zeiten des Angriffs wird Sprache oft zum Schutzschirm, zum Refugium: Sie ist das, was bleibt, wenn alles andere in Frage gestellt ist.

Welches utopische Potential birgt Sprache als Grenzensprengerin und gleichzeitig als Bewahrerin von Herkunft? Trennt sie uns von einander wie im babylonischen Sprachengewirr, oder macht nicht gerade die Vielsprachigkeit die Welt erst ganz?